Medientagebuch: Do it yourselfie

Nr. 39 –

Helen Brügger über neue Marketingherausforderungen

1,8 Milliarden Fotos werden weltweit pro Tag ins Internet hochgeladen und auf sozialen Netzwerken der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Alle machen sie. Selfies sind mittlerweile sogar Forschungsobjekte: BewohnerInnen von Bangkok und São Paulo lächeln häufiger als BewohnerInnen von Moskau, hat ein amerikanisches ForscherInnenteam eben in einer gross angelegten Studie herausgefunden.

Selfies haben auch Einzug in die Werbewelt gehalten. Sie verraten Trends. UserInnen werden dazu verlockt, ihren Schnappschuss in den Dienst einer Werbekampagne zu stellen, und sie tun es gratis und franko: «Ich vor dem Schreckhorn» beispielsweise oder «… vor dem Hafenkran». Doch in Zukunft geht es noch anders zur Sache: Sobald es nämlich möglich wird, die Milliarden Gratisbilder auf dem Netz elektronisch auszuwerten, stehen sie für personalisierte Werbung zur Verfügung. Ein berauschendes Potenzial!

Man stelle sich vor: Der distinguierte Herr, der auf seinem Selfie vor einem gegrillten Gigot posiert, verrät nicht nur, dass er gerne Lamm isst, sondern auch, dass er ein Eigenheim mit Gartensitzplatz hat. Schon bald, so freuen sich Kreative, wird es möglich sein, ihm ein Angebot für einen «exklusiven Palazzetti-Nuovo-Vulcano-Gartengrillkamin» für direktes Grillen auf den Leib zu schneidern. Während die entzückende Dame, die ihren bemerkenswerten Po in Acapulco für ein Selfie ins rechte Licht rückt, ganz diskret auf die «besonders günstige aufblasbare Insel-Schwimmlounge» aufmerksam gemacht werden kann (direktes Grillen hier bitte vermeiden). Eine Heiratsvermittlungsagentur könnte zudem die Dame und den Herrn, falls sich gewisse Affinitäten zeigen (etwa: Hat der distinguierte Herr zufälligerweise auch einen Swimmingpool für die Schwimmlounge?), zusammenbringen und so praktisch unbegrenzte neue Märkte erobern.

Wer nun meint, die Aussicht auf die schöne neue Werbewelt sei ein Hirngespinst der missgünstigen Autorin, die sich weder einen Gartengrill noch Ferien am Meer leisten kann, ist im Irrtum. Facebook-Chef Mark Zuckerberg oder Google investieren Millionen in Start-ups, die sich mit Bilderkennung und künstlicher Intelligenz beschäftigen. Und wenn diese Leute investieren, wollen sie auch Resultate sehen. Die «Werbewoche» zitiert Martina Schorn, Mitautorin einer österreichischen Studie mit dem Titel «Generation Selfie»: «Die systematische Auswertung von Bildern im Hinblick auf bestimmte Aspekte sowie die Verwendung der gewonnenen Daten als Basis für Werbung und Marketing sind technisch wenn nicht schon heute, dann in wenigen Monaten machbar.»

Der Begriff «Selfie» tauchte 2013 im Oxford English Dictionary auf. Seit Geri Müller kennen ihn auch hierzulande alle. Doch niemand hat sich bisher gefragt, was Geri Müllers Sünde aus der Sicht der Werbewirtschaft ist. Wir verraten es hier exklusiv: Statt seine Körperteile, wie alle überzeugten Selbstpaparazzi, der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, hat er sie nur mit einer Bekannten geteilt. Und damit das Potenzial, das in jedem Selfie steckt, krass unterschätzt. Man stelle sich vor: stramme Männerbeine vor glänzendem Parkettboden im Stadthaus. Ein gefundenes Fressen für die Werbewirtschaft, die nichts lieber getan hätte, als ein entsprechendes Mailing zu verschicken: «Sie brauchen dringend neue Rohner-Socken!» Oder: «Calida-Herrenunterwäsche, ideal für Politiker: Gönnen Sie sich zeitloses Design und besondere Langlebigkeit!»

Helen Brügger ist regelmässige Mitarbeiterin der WOZ.