Werbekritik: Die Ware Aufmerksamkeit
Der Kampf gegen Werbung und Konsumwahn ist alt, seine Methoden und Strategien sind vielfältig. Im Zeitalter des digitalen Kapitalismus stellt sich aber die Frage: Wo bleibt der Raum für diese Auseinandersetzung?
«Um den Verbrauch von klimaschädlichen Produkten zu reduzieren und unnötigen Konsum generell zu verringern, wird kommerzielle Werbung in allen öffentlichen physischen Räumen verboten.» So lautet eine von 138 Forderungen des Aktionsplans, den die Schweizer Klimastreikbewegung gemeinsam mit ExpertInnen aus diversen Fachbereichen im Januar veröffentlicht hat. Man kann die Forderung wahlweise kulturpessimistisch oder genussfeindlich finden, aber letztlich vollzieht sie einen logischen Schluss: Es ist primär der Konsum der Wohlhabenden, der die Treibhausgasemissionen weiter in die Höhe treibt. Und ist es nicht die alle Lebensbereiche durchdringende Werbung, die den Menschen Glück durch Konsum verspricht? Und sie dennoch niemals glücklich werden lässt mit dem, was sie haben?
So geschmeidig sie oft daherkommen mag, so staubtrocken lässt sich Werbung als Überlebenshelferin eines Kapitalismus verstehen, der schon lange ein grundsätzliches Problem hat. Bereits in den fünfziger Jahren wurde in den USA vor einer Krise der Übersättigung gewarnt, schreibt der Ökonom Matthias Binswanger in seinem Buch «Der Wachstumszwang». Und seit in den westlichen Nachkriegswirtschaften die Grundbedürfnisse breiter Schichten weitgehend gestillt wurden, bestehe deren Herausforderung nun vor allem darin, ihre Mehrproduktion auch zu verkaufen. «Statt um Bedürfnisdeckung geht es zunehmend um Bedürfnisweckung», schreibt Binswanger.
So ist Werbung in der Schweiz denn auch ein Milliardengeschäft, Ausgaben von über 3,7 Milliarden Franken hat die Stiftung Werbestatistik im letzten Jahr registriert. 2019, vor der Pandemie, waren es gar über 4,4 Milliarden. Gut ein Zehntel davon floss in die Aussenwerbung – auf Plakatwände und Videoscreens in den Strassen und öffentlichen Verkehrsmitteln, in jene Bereiche also, die gemäss Klimaaktionsplan dereinst werbefrei sein sollen. Ein Geschäft, das 2019 rund 484 Millionen Franken umsetzte, würde damit abgeklemmt.
Verbot versus Subversion
Vorbilder für die Umsetzung solcher Pläne gäbe es durchaus: Seit der Jahrtausendwende haben etwa São Paulo in Brasilien und Grenoble in Frankreich generelle Verbote erlassen, Paris hat seine Werbeflächen reduziert, und auch im indischen Chennai wurden Beschränkungen durchgesetzt. Manche US-Bundesstaaten untersagen das Aufstellen von Werbetafeln schon seit Jahrzehnten – wegen des Landschaftsschutzes oder zwecks Verkehrssicherheit.
AktivistInnen auf der ganzen Welt versuchen, der Werbung derweil mit direkten Angriffen beizukommen. Dabei soll ihnen zum Beispiel das «Brandalism»-Handbuch helfen: Auf 64 Seiten erklärt es, was es beim Eingriff in handelsübliche Werbeinstallationen an Bus- und U-Bahn-Stationen zu beachten gilt. Wie in der Bastelanleitung eines Möbelhauses wird die Mechanik der Glaskästen anhand von Zeichnungen erklärt: Sanft auf den Rahmen drücken, um den Riegel zu entsperren, Plakat hochrollen und entfernen, eigenes Poster anbringen, Kasten schliessen. Am besten am helllichten Tag, in einem Outfit, das jenem der lokalen Aussenwerbungsfirma ähnelt. «Vergiss nicht, dass die Angestellten unterbezahlt sind und lange Arbeitszeiten haben», und darum: «Sei entspannt oder vielleicht ein wenig gelangweilt oder ein wenig angepisst.»
«Brandalism» ist eine vor allem in Grossbritannien verankerte Graswurzelbewegung, die sich erstmals 2012 vor den Olympischen Spielen in London bemerkbar machte. In manchen britischen Städten waren die grossflächigen Werbeoffensiven von Markenunternehmen plötzlich übermalt, künstlerisch ersetzt, mit beissenden Botschaften ergänzt. «Hier kommt, was wir für Hunderte Jahre verprasster Privilegien kriegen», hiess es auf einem der Plakate. Weitere Aktionen folgten in Paris während der Klimakonferenz 2015, in Australien letztes Jahr während der grossen Buschbrände oder kürzlich in Liverpool, wo das Fussballsponsoring durch Grossbanken kritisiert wurde. «Wir stehlen diesen Raum vom Kapitalismus, und wir geben ihn dir gratis zurück», heisst es im «Brandalism»-Manifest.
Die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Eleftheria Lekakis von der Universität Sussex in Brighton forscht zu werbekritischen Bewegungen auf der ganzen Welt. Die Hintergründe der AktivistInnen seien sehr divers, sagt sie: Manche seien in politischen Szenen verankert, andere in künstlerischen, manche agierten als EinzelkämpferInnen, andere in Kollektiven. Entsprechend unterschiedlich seien auch ihre Motive: «Die einen zielen auf Sexismus oder Rassismus in der Werbung, andere ganz allgemein auf einen zügellosen Konsumismus.» Oft gehe es darum, den Zynismus von Unternehmen zu entblössen, die sich einen fortschrittlichen Anstrich geben wollten, «durch Unternehmenspropaganda oder Greenwashing». In den letzten Jahren hätten vor allem orchestrierte Aktionen gegen Klimawandel und Kapitalismus im Allgemeinen zugenommen.
Vorläufer solcher Bewegungen lassen sich bis in die fünfziger Jahre zurückverfolgen. Eine wichtige Triebfeder stellten feministische Gruppen dar, die sexistische Körperinszenierungen und normative Frauenbilder in Gesellschaft und Familie bekämpften. Seit Mitte der achtziger Jahre werden künstlerische Methoden, mit denen in die kommerzialisierte Öffentlichkeit eingegriffen wird, unter dem Begriff «Culture Jamming» zusammengefasst. In ihrem Bestseller «No Logo» beschrieb die globalisierungskritische Autorin Naomi Klein 1999 solche Praktiken als Möglichkeit für jene, denen das Geld für den Kauf von Werbeflächen fehle, um «den Bildern zu widersprechen, die sie nie zu sehen wünschten».
Fröhliche Anarchie, bürgerliche Radikalität
Schon früh waren sich die Kollektive nicht immer einig bei dem, was sie taten. Gerade in linken Kreisen gab es Spannungen, etwa zwischen «fröhlichen Anarchisten» und «hartgesottenen Revolutionären», wie Klein schrieb. Eine besondere Rolle nahmen die «Adbusters» ein, eine 1989 im kanadischen Vancouver gegründete Organisation, die seither ein gleichnamiges Magazin publiziert. Deren Konsumismuskritik wird vornehmlich mit rohen Collagen vorgetragen, in visuellen Verschachtelungen einer heilen Markenwelt mit den Grausamkeiten von Massengüterproduktion und Krieg. Das bevorzugte Stilmittel liegt im Schockmoment. Diese Radikalität von Adbusters hat auch eine bürgerliche Note: Der antikonsumistische Angriff zielt in seinen Grundzügen nicht unbedingt auf eine Globalwirtschaft, die Menschen ausbeutet, eine bizarre Ungleichheit generiert und dabei den Planeten zerstört. Vielmehr beschwört er ein Bild sinistrer Mächte herauf, die ganze Gesellschaften unterjochten und als deren Opfer sich entsprechend auch privilegierte Angehörige wohlhabender Gemeinschaften fühlen dürften. Werbung vergifte den Verstand der Menschen, weshalb er mit Adbusters einen «geistigen Umweltschutz» verfolge, liess der wortgewaltige Gründer Kalle Lasn einmal verlauten.
Der Vorwurf, dass Werbung die Menschen manipuliere, hat indes eine lange Geschichte, auch im deutschsprachigen Raum. «Der Angestellte und der Arbeiter werden heute nicht mehr in der Produktion ausgebeutet», schrieb 1961 der Schriftsteller Martin Walser, noch bevor er sich auf seine Reise in die politische Rechte begeben sollte: «Heute werden sie als Konsumenten ausgebeutet.» Die Menschen würden «zu Sklaven der oktroyierten Wünsche, die sie für ihre eigenen halten».
Nun blitzen im Artwork des Magazins «Adbusters» zwischen grotesken Verzerrungen der Konsumgesellschaft auch immer wieder politische Slogans hervor, doch wirken die revolutionären Aufrufe selbst wie abgegriffene Symbole der Konsumgesellschaft. Dazu passt, dass «Adbusters» vor acht Jahren den italienischen Populisten Beppe Grillo als «Keim einer erneuerten Linken» anpries – als dessen Hang zu Verschwörungstheorien längst bekannt war und seine Fünf-Sterne-Bewegung bereits faschismusnostalgische Mitglieder in ihren Reihen hatte. Lasn, der mit Adbusters 2011 auch die «Occupy Wallstreet»-Proteste mit anstiess, plädierte damals für einen Zusammenschluss mit der konservativen Tea-Party-Bewegung. Und schon 2004 war er mit einer antisemitischen Publikation aufgefallen: Auf einer eigens erstellten Liste mit neokonservativen KriegstreiberInnen hatte er alle jüdische Exponenten mit einer Markierung versehen.
Innerhalb der Culture-Jamming-Szene waren Lasn und «Adbusters» zu diesem Zeitpunkt längst umstritten, insbesondere wegen der selbstverherrlichenden Eigenvermarktung. So beinhaltete das Adbusters-Sortiment an Antikonsum-Accessoires auch T-Shirts und Kalender zum internationalen Buy-Nothing-Day. «Kurz gesagt», so Naomi Klein in «No Logo»: «Es gibt einen Markt für Culture Jamming.»
Überhaupt stellte Klein damals eine gewisse Desillusionierung in der antikonsumistischen Szene fest: das Gefühl, dass jeder Widerstand gegen die alles vereinnahmende Werbeindustrie letztlich zwecklos sei – weil die Werbefachleute es schafften, noch jede Strömung, ja selbst die Kritik an ihrem eigenen Wirken, zu absorbieren. Eine Hoffnung sah Klein auf einem damals neuen Aktionsfeld: dem Internet. Zwar werde auch dieses bereits mit Werbung geflutet, schrieb sie, aber die neuen Technologien stellten völlig neue Chancen für Culture-JammerInnen dar. «Sie bieten Anzeigenparodien und digitale Versionen echter Anzeigen zum Herunterladen an, die man im eigenen PC bearbeiten oder direkt auf der Website verändern kann.»
Wer bezahlt das Internet?
Zwei Jahrzehnte später wirkt diese Vorstellung reichlich unwirklich. Wenn wir heute eine Seite aufrufen, auf der gewöhnliche Bannerwerbungen geschaltet sind, treten wir einen automatisierten Auktionsprozess los: Innert Sekundenbruchteilen, noch während die Seite geladen wird, bieten die Algorithmen konkurrierender WerbekundInnen Geldbeträge, um ihre Botschaft auf unserem Bildschirm platzieren zu können. Je mehr die Algorithmen über unsere Surfgewohnheiten oder persönlichen Eckdaten wissen, desto mehr ist ihnen unsere Aufmerksamkeit wert. Und je wahrscheinlicher unser Besuch auf der Website ins Anklicken der Anzeige mündet, desto höhere Beträge ist der Algorithmus zu zahlen bereit. Dem Giesskannenprinzip der Aussenwerbung steht im digitalen Raum eine personalisierte Auslieferung der Werbebotschaften gegenüber. Ziel ist eine grösstmögliche Effizienz.
Das ist es, was unsere Daten so wertvoll macht. Sie seien «das Öl des 21. Jahrhunderts», wird gerne gesagt. Seit vor gut drei Jahren die neue Datenschutz-Grundverordnung der EU in Kraft trat, werden wir von Websites regelmässig dazu aufgefordert, deren Einsatz von Cookies zu akzeptieren. Cookies sind Informationen über die Aktivitäten von NutzerInnen, die in deren Browser abgelegt werden, und die seither geltende EU-Richtlinie gewährt interessante Einblicke in den Onlinewerbemarkt: So hoffen auf der Website eines zufällig ausgewählten Medienhauses ganze 132 Firmen darauf, dass wir ihnen erlauben, Cookies zu hinterlegen – und ihnen so ermöglichen, unsere Empfänglichkeit für bestimmte Güter und Dienstleistungen zu errechnen.
Gemäss der Stiftung Werbestatistik wurden in der Schweiz im letzten Jahr 462 Millionen Franken in Onlinewerbung investiert. Doch die Zahl hat einen gewichtigen Makel: Ausgaben für Suchmaschinenwerbung und Social Media sind darin nicht berücksichtigt. Das Geld, das von Werbetreibenden an die grossen Techgiganten fliesst, ist also nicht erfasst: an Google und Facebook vor allem, denen auch Youtube und Instagram gehören. Bei deren hochdifferenzierter Präsenz im gesellschaftlichen Alltag geht gerne vergessen, dass ihr Geschäft letztlich ganz einfach darin besteht, Werbung zu verkaufen.
Für die wenigsten ihrer Dienste bezahlen wir Geld – zwar sprechen sie uns an, als wären wir ihre KundInnen, tatsächlich sind dies aber die Werbetreibenden. Ihnen verkaufen Google und Facebook mit möglichst wenig Streuverlust unsere Aufmerksamkeit. 86 Prozent des Gesamtumsatzes von über 95 Milliarden US-Dollar hat Google 2017 im Werbegeschäft gemacht, bei Facebook waren es sogar 98 Prozent von 40,7 Milliarden. Seither hat Facebook seinen Jahresumsatz gar auf fast 86 Milliarden gesteigert; pro NutzerIn nahm das Unternehmen im letzten Quartal 2020 über zehn Dollar ein.
Dass Google und Facebook so gross und mächtig werden konnten, verdanken sie einem einfachen Start-up-Prinzip: Wachstum vor Profit. Sie schufen gigantische Angebote, deren Finanzierungsmodell erst entwickelt wurde, als ihre Reichweite bereits den ganzen Globus umfasste. Dass sie damit einen guten Teil der heutigen Internetarchitektur schufen, brachte sie in eine unvergleichliche Machtposition. In seinem Buch «Digitaler Kapitalismus» argumentiert Philipp Staab, Soziologieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität: «Klassische Monopolunternehmen agieren auf Märkten; die Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus hingegen sind Märkte.» Märkte also, die im Kern werbefinanziert sind.
Dabei wird Werbung ja gemeinhin als lästig empfunden. Ein Grossteil der InternetnutzerInnen wehrt sich dagegen mit Adblockern, worauf die Werbeindustrie mit Anti-Adblockern antwortet, gegen die wiederum Anti-Adblocker-Blocker entwickelt werden. Ein weiteres Wettrüsten findet auf dem Gebiet der falschen Klicks statt: Immer raffinierter imitieren Roboterprogramme das Surfverhalten menschlicher NutzerInnen, um Websites attraktiver oder InfluencerInnen beliebter scheinen zu lassen, als sie sind. Und weil sich auch dagegen Softwarelösungen finden lassen, gibt es in Niedriglohnländern Klickfarmen, in denen Menschen in kleinen Räumen an Dutzenden Handys jeden Tag Tausende Bullshit-Klicks tätigen. Was, wenn sich dieser Markt als grosse, überbewertete Blase entpuppt? Wer bezahlt dann das Internet?
Inszenierte Glaubwürdigkeit verkaufen
Ob bald von einer Werbeblase zu sprechen sein wird, ist allerdings fraglich – zumal sich kaum ein Wirtschaftszweig so anpassungsfähig zeigt wie die Werbebranche. Zum vielleicht wichtigsten kulturellen Symbol der neuen Werbewelt sind schliesslich die InfluencerInnen geworden – jene Abertausende SelbstvermarkterInnen auf Foto- und Videoplattformen wie Instagram, Youtube oder Tiktok, die ihre FollowerInnen an einem beträchtlichen Teil ihres Lebens teilhaben lassen, das sie so ausleuchten und zurechtlegen, dass Firmen darin ihre Produkte einbetten wollen. «Die Influencer sind nicht blosse Werbefiguren, wie wir sie einst kannten. Sie sind Werbekörper», schreiben Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt in ihrer jüngst erschienenen kulturgeschichtlichen Abhandlung «Influencer».
Etwa 3000 Leute sollen sich laut dem «Swiss Influencer Marketing Report 2020» in der Schweiz mittlerweile als InfluencerInnen versuchen. Der Report, der von den Unis Luzern und St. Gallen mit einer Marketing-, einer Kommunikations- und einer InfluencerInnenagentur sowie der Pariser Wirtschaftshochschule HEC erstellt wurde, kommt zum Schluss: Sechs von zehn SchweizerInnen zwischen dreizehn und dreissig Jahren folgen InfluencerInnen auf Social Media, und knapp über die Hälfte davon hat sich so schon zum Kauf eines Produkts verleiten lassen.
Laut Mitautor Reto Hofstetter, Professor für digitales Marketing an der Uni Luzern, lässt sich aus der Befragung von tausend jungen SchweizerInnen herauslesen, welche Funktion InfluencerInnen bei ihrem Kaufverhalten einnehmen: «genau in der Mitte, zwischen Freunden und bezahlter Werbung». Sie werden also als glaubwürdiger als eine Bannerwerbung empfunden, aber als nicht ganz so glaubwürdig wie das private Umfeld. So dürfte auch dieses künftig noch stärker von Werbung durchdrungen werden: «Vor ein paar Jahren konnte ich darauf vertrauen, dass auf Facebook alle meine Kontakte meine Freunde sind», sagt Hofstetter. «Heute muss ich damit rechnen, dass manche ihre eigene Marke aufbauen und bewerben wollen.»
Safe Space oder Kampffeld?
Hat nun das Internet die Funktionsweise von Werbung revolutioniert? Oder wurden bereits bestehende Mechanismen bloss zugespitzt? Auf Mundpropaganda setzen manche Weltmarken bereits seit Jahrzehnten. Was InfluencerInnen tun, findet in der Popkultur, im Sport, im Fernsehen oder im Kino schon lange statt – mit Markenverträgen für Superstars und Product Placement in Sitcoms und Blockbustern. Personalisierte Werbung gibt es auch in Form von Telefonmarketing oder Briefversand.
Zwar habe die Werbeindustrie für sich selbst schon immer grosse Paradigmenwechsel proklamiert, sagt dazu Medienwissenschaftler Guido Zurstiege von der Uni Tübingen. «Wenn man sich aber anschaut, welche weiterführenden Phänomene damit einhergehen, sage ich: Ja, die Internetwerbung hat einen tief greifenden Wandel gebracht.» Personalisierte Anzeigen, InfluencerInnenwerbung, Sponsored Content und Native Advertisement, die individuell am Bildschirm betrachtet werden, bieten sich als Zielscheibe einer öffentlichen Werbekritik gar nicht mehr an. Der Raum zwischen Absender und Empfängerin einer Werbebotschaft ist auf das Volumen einer Glasfaser geschrumpft.
Der Kollateralschaden dieser Entwicklung sei gross, sagt Zurstiege – etwa auch, was Fragen der Datensicherheit und der Überwachungsmöglichkeiten im Netz betrifft. «Und der Kollateralschaden ist noch grösser, wenn man sich überlegt, dass wir wider besseres Wissen da mitmachen», so der Medienwissenschaftler. Was geschieht mit einer Gesellschaft, die sich in einem «permanenten performativen Selbstwiderspruch» befindet? «Wohl noch nie haben auf der Welt so viele Menschen entgegen ihren eigenen Überzeugungen gehandelt», sagt Zurstiege.
Dass die Anreizsysteme im wirtschaftlichen Ökosystem des Internets gar demokratiegefährdend sein könnten, wurde spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten vielerorts rege diskutiert. Kritisiert wurde etwa der Youtube-Algorithmus, der laufend radikalere Videovorschläge macht, damit NutzerInnen möglichst viel Zeit auf dem Portal verbringen und mit Werbung bespielt werden können. Oder dass Facebook gezielte Fake-News-Kampagnen über seine Werbekanäle laufen liess. Personalisierte Werbung heisst auch: Der einen Nutzerin kann das eine erzählt werden, dem anderen Nutzer das Gegenteil davon.
Letztlich fällt es heute fast leichter, sich ein Ende des Kapitalismus vorzustellen als ein Ende der Werbung. AnalystInnen prognostizieren weiterhin ein rasantes Wachstum des Onlinewerbemarkts, für 2022 sagen sie einen globalen Umsatz von über 420 Milliarden Dollar voraus. Umso verlockender ist da die Vorstellung, zumindest im öffentlichen Raum vom normativen Konsumdruck verschont zu bleiben, ihn quasi zu einem Safe Space umzugestalten. Vielleicht aber sollte gerade dieser Raum als Feld der Auseinandersetzung erhalten bleiben: als einzig verbleibender Ort, der einen gesellschaftlichen Dialog mit der Welt des Konsums überhaupt noch zulässt.
Zu den Bildern
Die hier gezeigten Fotografien sind Arbeiten des französischen Künstlers OX. 1963 in Troyes geboren, machte er zunächst ab 1984 mit der von ihm gegründeten Künstlergruppe Les Frères Ripoulin mit auf Reklametafeln geklebten Bildern auf sich aufmerksam. Nach der Auflösung der Gruppe 1987 widmete er sich für einige Jahre der Malerei auf Leinwand. Ab 2000 nahm er die Arbeit im öffentlichen Raum wieder auf. OX versteht sich dabei nicht als Aktivist, der eine politische Aussage machen will. «Es ist nicht mein Ziel, Inhalte zu transportieren», sagt er. Vielmehr nutze er kommerzielle Werbeflächen oder behördliche Tafeln als öffentliche Leinwände. Oft nimmt er Zeichen und geometrische Muster aus der unmittelbaren Umgebung auf, versetzt den Ort so in einen neuen Kontext und erzeugt ein ironisches Spannungsverhältnis. Die Intervention selbst ist jeweils nur von kurzer Dauer. Das bleibende künstlerische Ergebnis besteht in der fotografischen Inszenierung.
Adrian Riklin