«Viele Grüsse aus dem Stadion»: Kultur klingt klug
Der Fussballexperte Pascal Claude schreibt seit Jahren über die «Randgebiete des Fussballs». Seine neusten Kolumnen erscheinen nun als Buch. Ein Auszug.
2004 sagte es der Berner Sänger Kuno Lauener in einem Interview, zehn Jahre später schrieb es der Präsident des FC Basel, Bernhard Heusler, ins Programmheft zum ersten Schweizer Fussballfilm-Festival: «Fussball ist Kultur.» Ich war immer der Meinung: Nein. Fussball ist nicht Kultur. Fussball ist Fussball. Ein Spiel, ein Sport, mehr nicht. Wenn aber zwei wie Lauener und Heusler in einem Zeitraum von zehn Jahren das Gegenteil behaupten, komme ich ins Grübeln.
Die Behauptung lässt sich in zwei Richtungen diskutieren: rückwärts und vorwärts. Wie kommt man zum einen darauf, den Fussball gleichzusetzen mit der Malerei, der Musik, dem Theater? Und was wird zum andern mit dieser Veredelung von etwas so Profanem bezweckt? Geht es grundsätzlich um mehr Anerkennung? Zielt man auf ein neues Publikum, dem man das Bild des Fussballs als Proletensport austreiben will? Oder ist die Aussage am Ende einfach politisch, ein taktischer Kunstgriff in die Subventionstöpfe?
Werkstipendien für Laubbläser
Der Kulturbegriff ist in der Neuzeit grosszügig erweitert worden. Das war wohl nötig, hat aber auch zu Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit geführt. Und die Erweiterung birgt Gefahren, wie Mario Vargas Llosa in seiner vehementen Anklage «Alles Boulevard» schreibt. «Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst», heisst es im Untertitel der deutschen Ausgabe, und nach Vargas Llosa haben wir den drohenden Verlust nicht zuletzt einer ignoranten Abkehr von althergebrachten kulturellen Werten zu verdanken. Dem Fussball widmet Fussballliebhaber Vargas Llosa einen eigenen, vernichtenden Abschnitt: Der Sport werde heute auf Kosten und anstelle geistiger Tätigkeit ausgeübt, schreibt er, und dabei rage «keine Sportart so heraus wie der Fussball».
Wo also Lauener und Heusler den Fussball zur Kultur erheben, ist er für den Südamerikaner Llosa gerade Beispiel für die Abwesenheit alles Geistigen und demnach das Gegenteil von Kultur. Tatsächlich bleibt die Kulturbehauptung im Fussball bis heute ein paar Antworten schuldig. Wann ist Fussball Kultur? In jedem Spiel? Ist der Junioren-E-Match zwischen dem AC Palermo Zurigo und dem FC Oetwil-Geroldswil auf der Sportanlage Juchhof ein kultureller Anlass, oder ist nur ein Champions-League-Final Kultur? Ist ein Foulspiel Kultur oder eher ein Kulturverstoss? Wie gut muss eine Spielerin sein, um als Künstlerin zu gelten und somit als Kulturschaffende? Hat jeder Spielzug einen kulturellen Wert oder nur der, der einstudiert, über den also zuvor nachgedacht wurde?
Sicher ist: Wenn Fussball Kultur ist, dann ist es jedes Spiel, das nach Regeln gespielt wird, vielleicht überhaupt jeder reglementierte Sport. Dann ist die Tour de Suisse Kultur und der Greifenseelauf, und bald sind es auch die Joggerinnen, die morgens vor meinem Fenster vorbeirennen, auch wenn die wohl sehr überrascht wären zu erfahren, dass sie sich gerade kulturell betätigen. Sie joggen ja einfach, so wie andere Klimmzüge machen, staubsaugen oder rauchen. Man kann den Kulturbegriff bis zur Unkenntlichkeit strapazieren. Wenn aber Tätigkeiten, die ohne einen Hauch von Reflexion auskommen, Kultur sind, dann werden demnächst die ersten Werkstipendien für Laubbläser ausgegeben.
Vielleicht ist es aber auch ganz anders. Vielleicht meinen Heusler und Lauener, wenn sie von Kultur sprechen, gar nicht den Fussball selbst, sondern seine Begleitumstände: seine Erzählungen, seine Rituale, seine Sternstunden und Abgründe, seine Chronisten, Wurstverkäuferinnen und Balljungen. Vielleicht meinen sie den Fussball als Erleben und Erleiden, als Gegenstand emotionaler und geistiger Auseinandersetzung und nicht das Spiel an sich.
In unserem Sprachraum werden das Begleiten und das Verhandeln des Spiels seit einigen Jahren unter dem Begriff «Fussballkultur» zusammengefasst. Ob hierzu bloss die Bücher von Nick Hornby und Javier Marías zählen oder doch auch die monumentalen Choreografien in den Fankurven, die Architektur englischer Stehtribünen und der Fangesang, darüber lässt sich bestens streiten. Die Deutsche Akademie für Fussballkultur, die sich durch ihre löbliche Arbeit eine gewisse Definitionsmacht erworben hat, kürt jährlich nicht nur Fussballbücher, sondern auch Fussballersprüche oder soziale Projekte. Sie fasst die «Fussballkultur» eher weit und bewusst nicht elitär eng. Doch selbst die Akademie käme nicht auf die Idee, ein Tor als kulturelle Leistung zu würdigen.
Fussball ist Kultur, Fussball als Kultur, Fussballkultur – man mag einwenden, das Sezieren von Begrifflichkeiten erscheine in diesem Zusammenhang etwas dreist. Es wird aber dann interessant, wenn sich aus der Neudeutung Begehrlichkeiten ableiten. Das Schweizer Magazin «Zwölf» hat in einer Ausgabe mit dem Titel «Revolution» die Ungerechtigkeit in der Verteilung von Kulturgeldern angeprangert und als eine Massnahme zur Rettung des Fussballs dessen Anschluss an die Subventionsströme gefordert. Für Ancillo Canepa, den Präsidenten des FC Zürich, waren die Thesen Steilvorlagen. Canepa verwies in einer Diskussionsrunde auf die immensen «soziokulturellen» Verdienste von Vereinen wie dem FCZ und dass diese von der öffentlichen Hand längst finanziell gewürdigt gehörten.
Fussball ist einfach er selbst
Sportvereine leisten viel, das steht ausser Frage. Wenn aber Vereinspräsidenten diese Leistungen in die Nähe von Kultur rücken, um damit finanzielle Ansprüche zu begründen, ist Vorsicht geboten. Angenommen, der FCZ würde mit fünf Millionen Franken jährlich von der Stadt Zürich unterstützt: Wohin müsste das Geld fliessen? In die soziosubkulturelle Südkurve? Die hat sich noch nie von jemandem zahlen lassen. In die wie bei allen Spitzenvereinen stark pyramidenförmig strukturierte Nachwuchsabteilung, die Kinder aus der ganzen Region zusammenzieht, um sie bald wieder auszusortieren? Welche Art von Kultur wäre da gemeint? Oder käme das Geld schlicht der Profiabteilung zugute, damit sich der FCZ Spieler leisten kann, die ihm den Anschluss an die Spitze gewähren? Das würde wohl unmittelbar die Forderung nach Offenlegung der Gehälter nach sich ziehen, wie sie in der Bundesliga bereits für Vereine erhoben wird, die von staatsnahen Betrieben gesponsert werden.
«Fussball ist Kultur», das klingt sicher besser als «Fussball ist Krieg mit anderen Mitteln». Aber so wie weder Fussball noch Handball noch Badminton so etwas wie Krieg sind, so sind sie auch nicht so etwas wie Kultur. Sie sind einfach sie selbst. Und das reicht eigentlich auch. Denn der Fussball als Fussball macht uns ja schon Sorgen genug.
Vernissage von «Viele Grüsse aus dem Stadion» im «Helsinki» an der Zürcher Hardbrücke am Mittwoch, 1. Oktober 2014, um 19.30 Uhr (Einlass ab 18.30 Uhr) in Anwesenheit von Pascal Claude.
Wieder erhältlich ist die Sammlung seiner zwischen 2006 und 2008 in der WOZ erschienenen Kolumnen «Knapp daneben». Die Bücher sind im WOZ-Shop auf
www.woz.ch/shop erhältlich:
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