Dokfilm «Mon Père, la Révolution et Moi»: Was ist, wenn alle Träume und Hoffnungen zerschlagen sind?

Nr. 44 –

In einem persönlichen Dokumentarfilm begibt sich die türkisch-schweizerische Regisseurin Ufuk Emiroglu auf die Spuren ihres Vaters, eines ehemaligen Revolutionärs.

Am Anfang stand Jules Verne: Filmemacherin Ufuk Emiroglu und ihr Vater auf der Suche nach Bildern der Erinnerung.

«Mein Vater lehrte mich die Revolution und du, wie man Kisir macht», sagt die junge Frau zu ihrer Mutter, mit der sie am Küchentisch sitzt und Tomaten schneidet. «Und, was ist besser?», will die Mutter wissen. «Kisir. Das Kochen nützt mir jeden Tag», sagt die Tochter und lacht. Die Revolution hingegen, so haben wir im Film «Mon Père, la Révolution et moi» bis zu dieser Szene bereits gesehen, hat ihr nicht wirklich viel genützt. Was die Revolution mit ihr und ihrer Familie angestellt hat und warum ihr Vater sich für die Revolution entschieden hat – dies erzählt die Filmemacherin Ufuk Emiroglu in ihrem persönlichen Dokumentarfilm. Und zugleich macht sie sich auf die Suche nach ihrem Platz in dieser Welt.

Berufsrevolutionär mit achtzehn

Dieser Platz war, aus Sicht von Emiroglus Eltern, eigentlich klar bestimmt gewesen: Ihre Tochter sollte in einer sozialistischen Türkei leben, in der es keine Klassenunterschiede mehr geben würde. Ihr Vater hatte sich in den siebziger Jahren dem Kampf für diese Gesellschaft verschrieben – mit achtzehn Jahren wurde er Berufsrevolutionär. Mitschuld an dieser Entscheidung, so erzählt die Filmemacherin im Film, war die Gesamtausgabe von Jules Verne, die er mit neun Jahren von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Vor allem der Roman «Von der Erde zum Mond» hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck bei dem kleinen Jungen. Als ein Jahr später tatsächlich ein Mann auf dem Mond landet, ist er überzeugt: «Die Träume von heute sind die Realität von morgen.» Diese Überzeugung begleitet ihn trotz mehrerer Rückschläge bis heute durch sein Leben.

Diesem Leben geht Ufuk Emiroglu nach. Sie reist in die Türkei, sucht und findet ehemalige Mitkämpfer ihres Vaters, der als Mitglied der kommunistischen Volksbefreiungspartei-Front (Kurtulus) für einen sozialistischen Staat kämpfte, und lässt sich an die Orte führen, an denen das Leben ihres Vaters stattfand. Aufnahmen ihrer Reise ergänzt sie mit Fotos aus dem Familienarchiv, mit Film- und Fernsehaufnahmen aus den siebziger Jahren sowie mit Gesprächen mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder.

Für schwer zu bebildernde Szenen – wie zum Beispiel jene, in der ihr Vater im Gefängnis gefoltert wird – hat Emiroglu eine gute Lösung gefunden: In animierten Collagen visualisiert sie, was sie aus dem Off erzählt. Diese Collagen geben dem Film eine erstaunliche Leichtigkeit, ohne jedoch das an sich schwere Thema ins Lächerliche zu ziehen.

In der Türkei herrschte in den siebziger Jahren eine Wirtschafts- und Politikkrise, das Land war verschuldet, die Arbeitslosigkeit gross. Wie viele andere im Land war auch Emiroglus Vater überzeugt, dass es einen radikalen Umbruch der Gesellschaft bräuchte. Er wurde zu einem der Leader der Partei, lehrte marxistisch-leninistische Theorie, machte Flugblätter, organisierte Streiks und kämpfte gegen die Grauen Wölfe, AnhängerInnen der rechtsextremen türkischen Partei der Nationalistischen Bewegung. Seine zukünftige Frau lernte er in der Zentrale von Kurtulus kennen. 1980 kam Ufuk zur Welt, «ein hübsches Baby, das mit Politmeetings aufwuchs, umgeben von Leben und Liebe». Sie würde in einer besseren Welt aufwachsen, davon waren ihre Eltern überzeugt.

Doch es kam anders. Nach dem Militärputsch kurz nach Ufuks Geburt gehörte ihr Vater zu den Ersten, die verhaftet wurden. Als er aus dem Gefängnis kam, tauchte er unter; die Familie lebte fortan unter einer anderen Identität. Nach einem Job in einer Druckerei fälschte er für die ganze Familie Pässe. Über Frankreich gelangte die Familie schliesslich in die Schweiz – da war Ufuk gerade einmal vier Jahre alt. Während sich das Mädchen zu einer Vorzeigeschweizerin entwickelte, war das ruhige Leben in der Schweiz für ihren Vater ein Schock. Das Einzige, wogegen der anerkannte Flüchtling hier kämpfen konnte, war die Langeweile. Und das bekam ihm nicht gut.

Wenn der Held zum Verlierer wird

Emiroglu versucht, in «Mon Père, la Révolution et moi» zu verstehen, wie aus dem stolzen Kämpfer und dem Held ihrer Kindheit eine gescheiterte Existenz werden konnte – ein Betrüger, ein Spieler, ein Trinker. Dass sich Emiroglu für einen ganz persönlichen Zugang entschieden hat, erweist sich über weite Strecken als richtig. Seine Schwäche hat der Film allerdings dort, wo er zu offensichtlich ins Therapeutische kippt, wie in jener Episode, in der sich die Filmemacherin auf eine Reise begibt, um weltweit alternative Gesellschaften zu besuchen und in einer von diesen allenfalls ihren Platz zu finden. Anstelle dieses Exkurses wäre eine Einbettung der Familiengeschichte in einen grösseren gesellschaftlichen und politischen Kontext erhellender gewesen.

Denn die Fragen, die Ufuk Emiroglu stellt, sind universelle: Was passiert mit Menschen, die gegen ihren Willen entwurzelt werden? Und was ist, wenn sich unsere Träume zerschlagen? Emiroglus Vater wurde in der Schweiz nie heimisch, doch aufgehört zu träumen hat er nicht: Heute tüftelt er an der Erfindung eines Perpetuum mobile, überzeugt, dass er es entgegen jeglicher wissenschaftlicher Logik schaffen wird.

Der Film läuft
zurzeit (Oktober/November 2014) in Bern im Kino Kunstmuseum.
 Filmstarts in weiteren Städten sind geplant.

Mon Père, la Révolution et moi. Regie: Ufuk Emiroglu. Schweiz 2013