Ebola und die Medizin: «Jemand muss jetzt verflixt noch mal die Sache richtig organisieren!»

Nr. 44 –

Wie konnte der Ausbruch von Ebola in Westafrika so ausser Kontrolle geraten? Marcel Tanner, Direktor des Schweizer Tropen- und Public-Health-Instituts, über die Hintergründe der Epidemie, die Lage vor Ort und Impfstoffe als letzte Hoffnung.

«Das WHO-System als Ganzes hat versagt», sagt der Epidemiologe Marcel Tanner: In Kenema im Süden von Sierra Leone trägt ein «Burial Team» aus Ortsansässigen einen an Ebola verstorbenen Mann zu Grabe. Foto: Luigi Baldelli, Echo Photo Agency

WOZ: Herr Tanner, wie schätzen Sie die aktuelle Lage in Liberia, Guinea und Sierra Leone ein?
Marcel Tanner: Es geht längst nicht mehr einfach um eine Ebolaepidemie, sondern um eine handfeste Gesundheitskrise: Sämtliche Versorgungssysteme sind zusammengebrochen. Mich ärgert es, wenn die Leute sagen: «Jetzt sind es schon 5000 Tote» – dabei stirbt jede Minute ein Mensch an Malaria. Das wird oft vergessen. Denn wenn die Gesundheitssysteme nicht mehr funktionieren, wenn die Menschen in den Randgebieten aus Angst vor Ebola nicht mehr behandelt werden, weil es weder Desinfektionsmittel noch Schutzkleidung gibt, dann werden auch die Menschen mit Malaria nicht mehr behandelt oder komplizierte Schwangerschaften nicht mehr angeschaut. Die Menschen gehen zugrunde. Und daran zerbrechen die Leute in Afrika, nicht zuletzt jene, die sich im Kampf gegen Ebola engagieren.

Nigeria hat es innert kurzer Zeit geschafft, die Epidemie in den Griff zu kriegen und einzudämmen. Warum hat das in Westafrika nicht funktioniert?
In Nigeria wütete nicht über Jahrzehnte ein Bürgerkrieg wie in Sierra Leone und Liberia. Und Nigeria hat alles richtig gemacht vom Moment an, wo der Ebolainfizierte auf dem Flughafen zusammengebrochen ist: Man hat ihn konsequent isoliert und sämtliche seiner möglichen Kontakte zurückverfolgt.

Bereits vor zwanzig und vor fünfzehn Jahren gab es Ebolaausbrüche mit mehreren Hundert Toten in Uganda und in Kikwit im damaligen Zaire. Die Situation dort unterschied sich in drei zentralen Punkten von jener in Liberia, Guinea und Sierra Leone: Die Bevölkerungsdichte war niedrig, ebenso die Mobilität der Bevölkerung, und das Gesundheitssystem hat einigermassen funktioniert. Dort, wo die ersten Ebolafälle in Westafrika Ende 2013 auftraten, ist hingegen nicht nur die Besiedlung in der Region dichter, sondern auch die Bevölkerungsmobilität enorm hoch – die Leute leben vom Handel, der Austausch an Waren und Gütern ist gross. Und das Gesundheitssystem war bereits zur Zeit des Ausbruchs extrem mangelhaft. Mit dieser fatalen Konstellation hat alles begonnen.

Was geschah, nachdem die ersten Ebolafälle Ende 2013 bekannt wurden?
Médecins Sans Frontières und auch andere NGOs waren rasch vor Ort und versuchten, Hilfe zu leisten. Und dann passierte, was leider typisch ist: Denjenigen an der Front, die «Dreck an den Schuhen» haben, die wissen, worum es geht – ausgerechnet ihnen hat man am wenigsten zugehört. Und das führte dann dazu, dass man das erste Auftreten von Ebola in den höheren Etagen völlig unterschätzt hat. Ich kann ja noch verstehen, dass sich die Weltgesundheitsorganisation WHO aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Schweinegrippe, wo sie gleich beim ersten Aufflackern einen globalen Notfall ausgerufen hat, erst einmal zurückhielt. Ich verstehe hingegen nicht, warum die Regierungen der betroffenen Länder nicht aktiv geworden sind. Monatelang ging es darum, sich erst einmal mit Einschätzungen und Berichten abzusichern. Das war letztlich der Grund, warum die Situation hat ausser Kontrolle geraten können.

Die WHO wird stark kritisiert, weil sie so verzögert und langsam reagiert hat: Trotz der Appelle von MSF hat sie noch Ende Juli behauptet, die Epidemie lasse sich mit traditionellen Präventions- und Kontrollmassnahmen eindämmen. Erst Ende August reagierte sie mit der Ebola Response Roadmap. Mitte September schliesslich rief UN-Generalsekretär Ban Ki Moon den globalen Notfall aus …
So funktionieren die Mechanismen. Aber sie kamen viel zu spät in Gang. Und die WHO ist ein normensetzendes Gremium. Sie ist nichts, wenn die Staaten nicht mitmachen. Deshalb richtet sich meine Kritik nicht einfach nur an die WHO, sondern an die Mitgliedstaaten. Das WHO-System als Ganzes hat versagt.

Marcel Tanner

Trotz mehrfacher Aufrufe von Ban Ki Moon ist ja erst ein kläglicher Bruchteil der geforderten Milliarde US-Dollar an Unterstützungsgeldern bei der Uno eingetroffen.
Ach, dieses Geld ist gar nicht so wichtig, wenn es darum geht, die Epidemie in den Griff zu bekommen. Jemand muss jetzt verflixt noch mal die Sache richtig organisieren! Würde an der Grenze zwischen Liberia und Guinea Krieg herrschen, und den Kämpfern würde die Munition ausgehen, hätten sie innerhalb von wenigen Stunden Nachschub. Warum verstreichen im Fall von Desinfektionsmitteln und Schutzmasken Wochen, bis sie an ihrem Bestimmungsort ankommen? Um eine Kiste mit Material von A nach B zu schaffen, braucht es doch weder Diskussionen noch Richtlinien und Pläne – es braucht bloss eine klare Kommandokette.

Die USA schicken Elitesoldaten, um Isolierstationen aufzubauen. Würde man sie nicht besser an vorderster Front als Beerdigungstruppen einsetzen?
Ob jetzt ausgerechnet die US-Elitesoldaten die Toten begraben sollen? Da spielen auch noch eine Menge kultureller Komponenten mit hinein. Wenigstens aber muss man den Afrikanern, die ihre Familien begraben, optimale Sicherheit dafür geben. Mich ärgern diese sozialethnologischen Argumente, dass Afrikaner auf ihren traditionellen Bestattungsritualen beharren würden. Für so dumm darf man die Menschen doch nicht halten! Man kann den Afrikanern durchaus erklären, dass sie ihre Toten mit einem Schutzanzug begraben müssen. Und sie verstehen das auch, wie die gegenwärtige Situation in vielen Gebieten zeigt. Aber dass sie ihre Toten selber begraben wollen, dafür muss man Verständnis haben. Das wäre bei uns ja auch nicht anders.

Während die medizinischen Helfer für den Einsatz vor Ort grösstenteils aus andern afrikanischen Staaten kommen, beschäftigen sich Europa und die USA mit den vereinzelten Ebolafällen im eigenen Land. Foutiert sich der Westen um das Leiden und die lebensbedrohliche Krise in Westafrika?
Die Frage macht mich sehr traurig – und sie ärgert mich, denn unserem Institut und Organisationen wie MSF geht es ja genau um Afrika. Mich stört, dass überhaupt darüber diskutiert wird, wer an die Front geschickt werden soll und sich exponieren muss. Wer wie unsere Mitarbeiter immer wieder nach Afrika reist und dort auch teilweise jahrelang lebt, bewegt sich mit einem anderen Bewusstsein durch die Welt. Es geht doch darum, miteinander ein Problem zu lösen.

In den letzten Tagen haben sich die Stimmen auch aus der WHO gemehrt, dass sich Ebola in Westafrika nicht mehr unter Kontrolle bringen lässt. Nur schon um die Anzahl der Neuinfektionen zu senken, bräuchte es bis Anfang Dezember für siebzig Prozent der Erkrankten ein Bett in einem Isolierzentrum, und siebzig Prozent aller Toten müssten sicher bestattet werden. Davon ist man weit entfernt: Voraussichtlich werden bis Anfang Dezember bloss 4300 der benötigten 7000 Betten bereitstehen, und die Zahl der Beerdigungsteams müsste sich von 50 auf 500 verzehnfachen.
Das ist nicht die wichtigste Rechnung, die man machen muss. Viel wichtiger sind andere Zahlen: Wie viele Schutzkleider stehen zur Verfügung, wie viele Gesundheitszentren kann man wieder öffnen? Wenn siebzig Prozent der Gesundheitseinrichtungen wieder funktionsfähig werden, dann hat man mehr erreicht. Natürlich ist es wichtig, dass die Amerikaner diese Isolationseinheiten bringen, aber das reicht bei weitem nicht. Das Material stapelt sich auf den Flugplätzen in Monrovia und Freetown. Es muss endlich in die Provinzen geschafft werden, damit das Gesundheitspersonal dort wieder Schutzkleidung zur Verfügung hat, und wenn es nur die einfachsten Mittel wie Handschuhe und Mundschutz sind. Absolut zentral ist auch, dass man möglichst rasch einen Impfstoff zur Hand hat, um als Erstes das medizinische Personal zu impfen. Nur so bringen diese das Gesundheitssystem wieder zum Laufen.

Die WHO scheint mittlerweile überzeugt, die Epidemie lasse sich nur mehr mit einer Impfung eindämmen. Sehen Sie das auch so?
Ja. Will man die Seuche schnell in den Griff bekommen, bleibt nur eine Impfung.

Zwei Impfstoffe sind in der Pipeline – einer vom US-Pharmakonzern Glaxo Smith Kline und dem nationalen US-Gesundheitsinstitut NIH sowie einer aus Kanada. Klinische Studien mit beiden sollen in der Schweiz durchgeführt werden. Können Sie mehr dazu sagen?
Der eine Impfstoff wird in Genf getestet, der andere in Lausanne. Am 22. Oktober ist das Screening der Freiwilligen angelaufen. Die Impfstoffe sollen in einem beschleunigten Verfahren getestet und dann so rasch als möglich das Gesundheitspersonal in den betroffenen Ebolagebieten geimpft werden, und zwar schrittweise, ausgehend von den einzelnen Gesundheitszentren: Erst werden Ärzte, Pfleger, Reinigungspersonal und Fahrer geimpft, dann können diese sich den Erkrankten vor Ort und deren Familie und Umfeld widmen und diese impfen. Mit diesem Konzept der Ringimpfung kann man gleichzeitig eine Feldstudie zur Wirksamkeit des Impfstoffs machen, weil man immer den Vergleich mit den noch nicht geimpften Menschen in den Gesundheitszentren der bislang noch nicht erreichten Teile der Region hat. Im Fall der Hepatitis-B-Impfung vor gut dreissig Jahren hat sich dieses Konzept bewährt und äusserst aussagekräftige Resultate geliefert.

Wie funktionieren diese Impfstoffe?
Es sind Aktivimpfstoffe mit Viren, die als «Gentaxis» funktionieren. Beim Impfstoff des Pharmakonzerns GSK handelt es sich dabei um Adenoviren von Schimpansen, denen ein Genabschnitt eingefügt wurde, der die Oberfläche des Ebolavirus definiert. Vermehren sich diese veränderten Adenoviren nach der Impfung im menschlichen Körper, sollte dieser entsprechend Antikörper gegen Ebola bilden.

Und wie schaut das beschleunigte Verfahren aus?
Das Verfahren ist dreistufig und insofern abgekürzt, als nicht das Ende und die Auswertung jeder Stufe abgewartet werden müssen, bevor man zur nächsten übergeht. Sobald die Tests an Freiwilligen hier in der Schweiz zeigen, dass keine Nebenwirkungen auftreten, will man mit der Impfung von Testpersonen in einem nicht von der Epidemie betroffenen Gebiet in Afrika starten. Der GSK-Impfstoff wird in Mali getestet, der kanadische in Lambaréné in Gabun. Sobald die ersten Ergebnisse bezüglich Sicherheit vorliegen und auch die weiteren Resultate aus der Schweiz positiv sind, kann mit der Impfung des Gesundheitspersonals und danach der Risikogruppen in den Ebolagebieten begonnen werden.

Wann, schätzen Sie, wird der Impfstoff in Westafrika zum Einsatz kommen?
Wenn alles gut läuft, könnte bereits im ersten Quartal 2015 in den betroffenen Ebolagebieten mit Impfen begonnen werden.

Warum hat man nicht früher damit begonnen, einen Impfstoff gegen Ebola zu entwickeln?
Hätte man Experten vor einem Jahr gefragt, wie man die 500 Millionen am besten einsetzen könnte, die man normalerweise zur Entwicklung eines Impfstoffs braucht: Keiner von ihnen wäre auf Ebola gekommen. Ganz einfach, weil man auch bei den vernachlässigten Krankheiten von den grössten und dringlichsten Problemen ausgeht, und da stehen nun einmal Malaria oder Tuberkulose zuoberst. Übrigens: Im Fall von Ebola hat bereits ein kleiner Grundstock an Forschung existiert, und zwar nicht etwa in der Pharmazie, sondern im Bereich des Bioterrorismus, unter anderem gefördert und finanziert vom amerikanischen Verteidigungsministerium. Darauf hat man jetzt zurückgreifen können.

Marcel Tanner

Der Epidemiologe Marcel Tanner (62) ist Direktor des Schweizer Tropen- und Public-Health-Instituts in Basel und Präsident der Drugs for Neglected Diseases Initiative, die von Médecins Sans Frontières (MSF) ins Leben gerufen wurde. Als Experte berät er zahlreiche internationale Gremien, unter ihnen auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Tanners Passion ist die Arbeit vor Ort: In den vergangenen 35 Jahren hat Tanner immer wieder in Afrika geforscht, gearbeitet und gelebt.