Medientagebuch: Grundsätzlich feindlich?

Nr. 45 –

Bernard Schmid über die Proteste in Frankreich

JournalistInnen sind grundsätzlich feindliche Wesen: Von dieser Voraussetzung gehen einige der jungen Leute aus, die seit mehreren Monaten in einem Hüttendorf im Feuchtgebiet Le Testet im westfranzösischen Bezirk Tarn gegen ein Staudammprojekt Widerstand leisten. Am vergangenen Freitag erhielten sie das, was sie am dringendsten wollten: Bezirkspräsident Thierry Carcenac verkündete einen Baustopp für das Projekt, weil es vorläufig politisch nicht durchsetzbar sei. Zuvor hatte es allerdings einen Toten gegeben: Am 26. Oktober war gegen 2 Uhr früh der 21-jährige Botanikstudent Rémi Fraisse gestorben. Zwei Untersuchungen im Auftrag der Regierung haben inzwischen bestätigt, dass der junge Mann das Opfer einer polizeilichen «Offensivgranate» geworden ist, die durch eine Druckwelle einen Schock erzeugen sollte. Spuren des Sprengstoffs TNT wurden an der Kleidung des Toten gefunden.

Dass erstmals seit 1986 ein Demonstrant durch die französische Polizei ums Leben gekommen ist, vermeldeten alle wichtigen französischen Medien umgehend auf ihren Websites und in den News Alerts. Doch viele der teilweise anarchistisch inspirierten jungen Leute, die den Protest sowohl gegen das sinnlose Grossprojekt von Sivens – der Staudamm wurde mit Zahlen eines landwirtschaftlichen Bedarfs von 1989 gerechtfertigt, die längst überholt sind, er droht eine Feuchtzone mit über neunzig seltenen Pflanzenarten zu vernichten – als auch gegen die Polizeigewalt tragen, trauen den JournalistInnen nicht über den Weg. Eine Reportage der «Libération» aus dem Gelände, die BesetzerInnen ausführlich zu Wort kommen liess, aber politische Strömungen unter ihnen auszumachen versuchte, wird von den Betroffenen als «Medienlüge» eingestuft. In den selbstverwalteten Zeitungen, die sie in ihrem Hüttendorf herstellen, gibt es für solche Texte eine Rubrik mit dem Namen «Merdias» – ein Wort, gebildet aus «merde» für «Scheisse» und «médias» für «Medien».

In Paris, Nantes und Toulouse ist es vergangene Woche zu teils heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Letzten Mittwoch wurden in Paris 180 Leute festgenommen, zu denen ausser Autonomen auch «brav bürgerliche» DemonstrantInnen gehörten. Manche bürgerliche Medien berichteten sensationsheischend von militanten DemonstrantInnen, schrieben etwa von Angehörigen des harten Kerns der autonomen Szene, die mit Hämmern (für Bankautomaten bestimmt) und Molotowcocktails aufmarschiert seien. Nach Zusammenstössen in Nantes feierte der konservative «Figaro» eine «Stärkedemonstration der Polizei».

Doch lassen sich die Reaktionen der Presse keineswegs auf diesen Nenner bringen. In Wirklichkeit gingen die etablierten und alternativen Medien mit dem Protest offener um, als die Kritiker ihn wahrnehmen wollten. Die Abendzeitung «Le Monde» berichtete ausführlich über «Interessenkonflikte» beim Zustandekommen des Entscheids für das Staudammprojekt: Viele involvierte Bezirksparlamentarier sind Grossbauern, die aus dem Projekt auch den grössten Nutzen zu ziehen glaubten. Die «Libération» publizierte am Wochenende auf einer ganzen Seite einen Brief von Paul Michalon unter dem Titel «Die Sozialisten haben nichts gelernt». Der Bruder des Autors, Vital Michalon, war am 31. Juli 1977 bei einer Demonstration gegen das Atomkraftwerk in Creys-Malville ums Leben gekommen – und zwar durch eine «Offensivgranate» vom selben Typ wie jene, die Rémi Fraisse nun das Leben kostete.

Bernard Schmid schreibt für die WOZ aus Paris.