Zeitgenössische Musik: Die Digital Natives drängen nach

Nr. 45 –

Die diesjährigen Tage für Neue Musik Zürich bieten nicht nur Altbewährtes. Eine junge Generation nutzt die digitale Technik als Ausgangspunkt für neue musikalische Wahrnehmungen.

Wie jung ist eigentlich die Neue Musik?, fragt man sich gelegentlich, gerade auch jetzt wieder, wo mit dem November die «Tage für Neue Musik Zürich» anstehen. Wie so oft richtet sich auch diesmal der erste Blick auf die grossen Namen: Das Tonhalle-Orchester unter Leitung von Pierre-André Valade spielt Helmut Lachenmanns Orchesterstück «Schreiben»; ausserdem erklingen Stücke von Georg Friedrich Haas, Brice Pauset, Hans Abrahamsen, Salvatore Sciarrino, Enno Poppe oder Georges Aperghis, allesamt arrivierte Komponisten (und Kompositionslehrer), die längst an den grossen Festivals der zeitgenössischen Musik für Erfolge sorgen – gesicherte Werte also innerhalb dieses sehr spezialisierten Bereichs. Allein deshalb lohnt sich ein Besuch gewiss.

Aber halt: Ein zweiter Blick aufs Programm tut gut. «Die neue Musik ist jung!», behauptet der Basler Saxofonist Marcus Weiss, der heuer das Festival kuratiert hat: «Nie wurden so viele Ensembles gegründet, so viele innovative Projekte initiiert, und vielen Vorurteilen zum Trotz dümpelt die Neue Musik nicht im elitären Zirkel oder im akademischen Bereich dahin, sondern stellt sich frisch gegen den konsumistischen Mainstream.»

Neuer Elan

Ja, die zeitgenössische Musik hat sich auf erstaunliche Weise verjüngt und wird sogar von einem enormen Enthusiasmus getragen. Zu erleben war das etwa diesen Sommer bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, wo sich jeweils die junge Generation für Meisterkurse trifft. Etwas ist im Wandel. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt ein neuer Elan an den Musikhochschulen. Diese jungen Musikerinnen und Musiker wollen etwas, und sie haben etwas zu sagen. Wenn es um den Nachwuchs in Komposition und Interpretation geht, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen – hoffen wir, dass auch ein junges Publikum davon angezogen wird.

Aus der Schweiz ist zum Beispiel der Komponist Michael Pelzel, Jahrgang 1978, zu nennen. Zu Hause ist er auf der Orgelbank der reformierten Kirche Stäfa, wo er allsonntäglich den Gottesdienst begleitet – falls er nicht gerade in der Welt unterwegs ist. Zu seinem neuen Stück «Dance Machine» für Flöte und Cello wurde er etwa bei einem Stipendiumsaufenthalt in Südafrika inspiriert: Ihn faszinierten die rhythmisch und melodisch vertrackt-einfachen Abläufe auf afrikanischen Marimbas, die nun auf die klassischen Instrumente übertragen werden.

Dann ist da die nicht minder impulsive und energiegeladene Musik des Belgiers Stefan Prins, den man als Vertreter der Digital Natives bezeichnen möchte, denn er bezieht regelmässig neuste Medien in seine Projekte ein. «Generation Kill» heisst ein Prins-Stück, das vor zwei Jahren in Donaueschingen für Furore sorgte.

Vor vier Musikern auf der Bühne sitzen vier weitere, die, während sie Klänge Ersterer samplen und sie wieder der Musik beifügen, via Playstation mit heilloser Rasanz Bilder der live spielenden Musiker auf durchsichtige Leinwände einblenden, die vor ebendiesen stehen.

So entsteht ein flimmerndes Gebilde, bei dem zwischen Realität und Virtualität kaum zu unterscheiden ist, aggressiv und hyperaktiv. Vermischt werden die Bilder der Musiker mit Bildern aus dem Irakkrieg. Eine politische Dimension wird spürbar hinter der Game-Oberfläche.

Unterschiedlicher Gestus

Die Generation jener, die mit Computerspielen, Internet und Handy aufgewachsen sind, greift diese Elemente nicht nur anekdotisch auf, wie es bei den älteren KomponistInnen zuweilen vorkommen mag; sie nimmt sie als Ausgangspunkt für ihr musikalisches Denken. Und erreicht dabei einen neuen Wahrnehmungsmodus. Und sie schreibt für Ensembles, die ebenfalls mit diesen neuen Technologien vertraut ist. Prins etwa gehört zum belgischen Ensemble Nadar.

Es sind ja regelmässig Abgänger der Musikhochschulen, die sich zu Formationen für Neue Musik zusammenschliessen, oft rund um einen Dirigenten und Komponisten. Vor fast drei Jahrzehnten entstand so das Ensemble Recherche in Freiburg im Breisgau (das nun in Zürich Hans Abrahamsens sensationellen Zyklus «Schnee» spielt); vor fünfzehn Jahren in Berlin das Ensemble Mosaik (das mit Werken seines Leiters Enno Poppe auftritt); und in den letzten Jahren nun eben Nadar – oder auch das israelisch-schweizerische Ensemble Nikel oder das Trio Catch. Alle sind sie mittlerweile beliebte Gäste bei den Festivals, denn sie agieren ebenso präzise wie motiviert. Wobei der Gestus des Auftretens denn doch auch sehr unterschiedlich ist.

Das Trio Catch mit der Klarinettistin Boglárka Pecze, der Pianistin Sun-Young Nam und der aus Zürich stammenden Cellistin Eva Boesch macht Kammermusik vom Feinsten. Zum Festival bringen sie eines ihrer Erfolgsstücke mit: das poetisch-versponnene «The People Here Go Mad. They Blame the Wind» der 31-jährigen Italienerin Clara Iannotta. Daneben wirken die vier vom Ensemble Nikel fast wie eine Punkband: Saxofone, E-Gitarre, Percussion, Klavier – natürlich allein der Gitarre wegen verstärkt, was einen für die Neue Musik ungewöhnlichen Sound erzeugt. Und sie spielen auch ungemein lebendig, kraftvoll, ja auch viril – und sie führen nur Stücke auf, die eigens für sie geschrieben wurden. Es entsteht also tatsächlich Neues in der Neuen Musik, und sie hat mittlerweile sogar ihre Jungstars. Nichts Besseres könnte ihr passieren.

«Tage für Neue Musik» in Zürich, vom 13. bis 
16. November 2014. www.tfnm.ch