Sex in der Box: Wo die bunten Lämpchen blinken
Prostitution als drastischer Amüsierzirkus: Kornel Mundruczo, ungarischer Gastregisseur am Zürcher Schauspielhaus, beleuchtet in «Hotel Lucky Hole» das örtliche Sexgewerbe.
Die Box im Zürcher Schiffbau ist jetzt auch eine Verrichtungsbox. Oder in den Worten des Boulevards: Unterhosentheater war gestern, jetzt haben sie nicht mal mehr Unterhosen an. Licht aus im Saal, auf der Bühne dämmerts, und schon wird gevögelt bis zum Orgasmus. Es geht umgehend zur Sache in «Hotel Lucky Hole», und die Sache heisst: Prostitution in Zürich.
Ein Lustspiel ist das nicht, auch wenn es buchstäblich wie eins beginnt. Zwei ruckelnde Leiber, Stellungsbefehle, synchrones Stöhnen: Gespielter Sex taugt halt immer auch zur Farce, selbst wenn er nur gekauft ist (oder gerade dann). Aber der Rausch der Lust währt nur kurz, und unten in der Küche geht dann alles kaputt zwischen den beiden: Der Banker Fritz (Fritz Fenne) ist seinen Job los, drum verstösst er jetzt seine Geliebte, die ungarische Prostituierte Anna (furios: Annamaria Lang). Wirft sie aus der Wohnung, die er eigens für sie gemietet hat, damit die heimliche Parallelwelt nicht mit seiner bürgerlichen Existenz kollidiert. Bei Fritz daheim warten Frau und Kinder. Auf Anna wartet nur der Wohncontainer mit den Mädchen vom Strassenstrich.
Jennifer Rush, ausgerechnet
So läuft das oft in diesem Stück, das der ungarische Gastregisseur Kornel Mundruczo mit Koautorin Kata Weber am Zürcher Schauspielhaus entwickelt hat, als Schlussteil seiner Suizidtrilogie. Erst bauen sie einen lustig überzeichneten Amüsierzirkus auf, danach lassen sie uns zurück ins nackte Elend rasseln, inklusive behelfsmässiger Abtreibung per Stricknadel. Dabei treten die Freier mit ihren Spezialwünschen als aufbrausende Witzfiguren auf: als Schaumfetischist mit skatologischem Kennerblick, oder als Muttersöhnchen von der Krankenversicherung, das sich mit roten Rosen auspeitschen lässt. Ein irritierend heiteres Kabinett der Perversionen, was Mundruczo und Weber über die Bühne jagen, die gebaut ist wie ein Setzkasten.
Da blinken die bunten Lämpchen wie zum Hohn, und die Träume sind so billig wie die Keyboards, die auf der Bühne gespielt werden, als Anna in ihrer Einsamkeit Kuschelrock singt: «The Power of Love» von Jennifer Rush, ausgerechnet. Wenn die Karikatur der Sexarbeit ins Grauen kippen soll, kündigt die Regie das mit unheilvollen Stroboblitzen an. Dann gibts einen Drogencocktail für eine minderjährige Ukrainerin (Lisa-Katrina Mayer), und als sie leblos daliegt, malt der Freier mit Lippenstift seine Beschimpfungen auf ihren nackten Leib: «Schlampe», «Parasit» et cetera. Die Frau als Objekt und Opfer von fremden Zuschreibungen: Danke, das war plakativ genug, wir haben begriffen.
Mundruczo und Weber nehmen Anleihen beim «Zigeunerbaron» von Johann Strauss; ihr dramaturgisches Gerüst aber haben sie sich aus den Nachrichten geholt: Mit Anna und Fritz folgen sie lose dem realen Fall um einen britischen Banker, der sich vor drei Jahren in einem Wald erhängte – und der dabei zwei Prostituierte für ihre Mithilfe bezahlte, als wär das Spiel mit dem Strang nur ein extravaganter Kundenwunsch wie jeder andere. In «Hotel Lucky Hole» ist es Anna, die dafür im Gefängnis landet. Das wiegen dann auch die 25 000 Franken nicht auf, die der Banker ihr gezahlt hat.
Von Porno zu Nils Holgersson
Wie es auf den Selbstmord zugeht, verabschiedet sich die Regie dann auch von der hyperrealistischen Groteske: Der tödliche Ausflug in den Wald wird als Film eingespielt, für den Prozess verwandelt sich das Ensemble in den Deklamationsapparat einer Männerjustiz, die frontal zum Publikum über die Schuld der angeklagten Frauen verhandelt. Und für den melodramatischen Schluss gibts noch einen Stilwechsel: Da sammelt sich das Personal zur Drehbuchlesung samt live verfertigter Geräuschkulisse, alles eingerahmt von einem Videoaltar, der scheinbar wahllos durch ein kulturelles Bildrepertoire zappt, von Gustave Courbet bis Anna Karenina, von Hardcore-Pornos bis Nils Holgersson. Das ist handwerklich so virtuos gemacht, dass einem die befremdliche Kurve fast nicht mehr auffällt, die der Abend genommen hat: von der drastischen Farce via Brecht ins multimedial gepimpte Melodrama samt verschnörkeltem «The End» auf der Leinwand.
Schon der Schweizer Film hat sich ja jüngst am Zürcher Sexgewerbe abgearbeitet: dezent im Modus bürgerlicher Ensemblefilme (Petra Volpes «Traumland») oder bewusst schäbig in auf dokumentarisch getrimmtem Realismus (Men Lareidas «Viktoria»). Kaum wurde der Strassenstrich per Volksentscheid in die Sexboxen an der Peripherie verlegt, holt ihn die Kultur zurück ins Zentrum. Ein Modethema, auf das nun auch das Theater aufspringt? Von diesem Kalkül kann man Mundruczo freisprechen, bei allem Voyeurismus, den er hier bedient. Denn wer sich fragt, wo in Zürich die heimlichen Kontaktstellen zu Ungarn liegen, landet schnell in der Schattenökonomie der dienstbaren Körper, in der ein grosser Teil der Prostituierten aus Mundruczos Heimat stammt.
Nur, besonders inspirierend scheint diese Beobachtung nicht gewesen zu sein. Aber da spielt vielleicht wieder nur die verkappte Arroganz des einheimischen Blicks: Wir gehen ins Stadttheater in der Erwartung, dass der prominente Gastregisseur aus Osteuropa seinen «fremden Blick» auf das Zürcher Sexgewerbe präsentiert – und dann sind wir enttäuscht, wenn er nur dieselben stereotypen Bilder reproduziert, die wir uns hier vom Milieu und seinen Mechanismen von Gewalt und Abhängigkeit machen.
Nächste Vorstellungen: 20./21. und 24. November 2014, 20.15 Uhr; 23. November, 19.15 Uhr. Weitere Termine ab 15. Dezember 2014, siehe www.schauspielhaus.ch. Von Kornel Mundruczo ist ausserdem «Dementia» vom 5. bis 7. Dezember 2014 in der Gessnerallee in Zürich zu sehen.