Westsahara: Wachsende Unrast im Niemandsland
In der Westsahara warten die Sahrauis auf das seit 1991 angekündigte Referendum, das ihnen einen unabhängigen Staat garantieren soll. Doch viele Junge haben das Warten satt.
Die junge Tumana Ahmed atmet tief durch und sagt leise: «Wir haben keine Zukunft. Du kannst fleissig sein, studieren, einen guten Abschluss machen – und dann? Es gibt hier nichts. Du darfst träumen. Aber nur in engen Grenzen. Unser Verstand, unsere Seele ist wie eingesperrt.»
Wie Ahmed geht es vielen jungen Sahrauis, dem Volk der Westsahara. Sie haben eine gute Ausbildung, sprechen Fremdsprachen. Aber Arbeit gibt es kaum in diesem Niemandsland in der Sahara. Es gibt auch sonst kaum etwas ausser Sonne und Sand – kein Wasser, praktisch kein Grün, keinen fruchtbaren Boden. Dafür viel vermintes Gelände und Temperaturen von über fünfzig Grad Celsius im Sommer. Zudem die schwindende Hoffnung darauf, einmal in einem unabhängigen Staat leben zu können.
Marokkanische Besetzung
Als sich die Kolonialmacht Spanien 1975 aus der Westsahara zurückzog, erhoben die Nachbarn Marokko und Mauretanien Anspruch auf das riesige Territorium. Doch die Sahrauis wollten selbst über ihr Land bestimmen. Der Internationale Gerichtshof unterstützte sie. 1976 proklamierte der Frente Polisario, die militärisch-politische Organisation der Sahrauis, die Demokratische Arabische Republik Sahara. Aber Marokkos König Hassan II. hatte bereits seine Leute einmarschieren lassen und vollendete Tatsachen geschaffen. Es kam zum Krieg mit Marokko und Mauretanien.
1979 zog sich Mauretanien aus dem Gebiet zurück. Doch erst 1991 willigte der Frente Polisario in einen Waffenstillstand mit Marokko ein. Dafür versprach ihm die internationale Gemeinschaft, dass die Sahrauis in einem Referendum über ihre Zukunft entscheiden dürften. Sie warten bis heute auf die Einlösung dieses Versprechens (vgl. «Glencore bohrt in der Westsahara» im Anschluss an diesen Text).
In den Kriegsjahren flohen Zehntausende Sahrauis in Richtung Algerien, wo sie bis heute in Flüchtlingslagern nahe des Oasenstädtchens Tindouf leben. In den Lagern wohnen geschätzte 150 000 Menschen. Wie viele Sahrauis es insgesamt gibt, ist umstritten; die Schätzungen gehen von einigen Hunderttausend aus. Den in der Westsahara Verbliebenen ist der Zugang zum westlichen Teil ihres Landes, der bis zum Atlantik reicht, verwehrt: durch einen 2700 Kilometer langen, verminten und überwachten Sandwall, der von Marokko errichtet wurde. Dieser wird von den Sahrauis nur die «Schandmauer» genannt.
In den Flüchtlingslagern sind die Menschen nach wie vor auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Auch Wasser und Gas wird ihnen von internationalen Organisationen in die Wüste geliefert. Arbeitsstellen sind rar, nur die Verwaltung, öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Spitäler und ein paar Hilfswerke können Arbeit bieten. Eine weitere wichtige Option ist die Armee. Man kann auch versuchen, als FahrerIn eines Sammeltaxis etwas dazuzuverdienen oder als VerkäuferIn in einem der kleinen lokalen Geschäfte, die in letzter Zeit entstanden sind. Schliesslich als ViehzüchterIn, wobei sich die Auswahl auf Dromedare und Ziegen beschränkt. Das ist alles. Wenige Glückliche ergattern ein ausländisches Stipendium oder können sich ein teures Visum leisten – um im Ausland Arbeit zu suchen. Auch die Studierte Tumana Ahmed hofft auf ein Stipendium, bislang aber vergeblich. Immerhin hat sie eine Stelle: bei der sahrauischen Antiminenkampagne.
Schwieriger ist es für die fröhliche Fatima Abdelhay aus der Flüchtlingssiedlung Smara. Sie studierte in Libyen, als der Machthaber Muammar al-Gaddafi 2011 gestürzt und getötet wurde. Mitten im Krieg musste sie fliehen, quer durch die Sahara. Gaddafi war einer der grossen Unterstützer der Sahrauis. Abdelhay schaffte es, heil nach Hause zu gelangen, sie lebt wieder bei ihrer Familie. Doch nun weiss sie nicht weiter.
Bald vierzig Jahre harren die geflohenen Sahrauis schon in den Siedlungen im Niemandsland aus. Mit riesiger Willenskraft haben sie einen gut organisierten Exilstaat geschaffen. Sie haben Verwaltungsstrukturen auf die Beine gestellt; die Republik ist in Provinzen und Gemeinden aufgeteilt, die sich selbst verwalten und ihre Delegierten in die zentralen Gremien des Exilstaats wählen, namentlich in den Nationalrat, eine Art Parlament. Es gibt zivilgesellschaftliche und kulturelle Organisationen, einen Radio- und einen Fernsehsender, Schulen, Gerichte und Spitäler. Und es gibt eine starke Solidarität.
Angesprochen auf den Gemeinsinn, den die Sahrauis während des Kriegs mit Marokko entwickelt haben, sagt Tumana Ahmed: «Verglichen mit unseren Eltern, die so viel gelitten haben, geben wir der Gemeinschaft nichts zurück. Alle versuchen zuerst, so viel zu geben, wie sie können. Bis sie irgendwann anfangen, nur noch an sich zu denken.»
Des ewigen Wartens müde
An sich denken, das tun allmählich viele Sahrauis. Sie müssen es tun, denn die täglichen Lebensmittelrationen sind kleiner geworden. Grund dafür sei die Krise in Europa, heisst es in den Lagern. Die Menschen sind deshalb immer stärker auf einen Verdienst angewiesen. Ausserdem möchten sie endlich anständig leben, sich vielleicht eine Klimaanlage leisten oder ihre kargen Lehmhütten und Zelte etwas ausschmücken. Und: Sie sind des ewigen Wartens auf ein Referendum müde, das diesen Zustand im Dazwischen endlich beenden würde.
Abdeslam Omar Lahsen ist ein gebildeter und umtriebiger Mann. Sein Französisch, das er sich selbst angeeignet hat, ist nahezu perfekt. Er ist der Präsident der sahrauischen Menschenrechtsorganisation Afapredesa, die sich für die verschwundenen und gefangenen Sahrauis im marokkanisch besetzten Teil der Westsahara einsetzt.
Er zeigt uns heimlich aufgenommene Filme. Es sind schreckliche Bilder: Da sind zum Beispiel sahrauische Frauen zu sehen, die friedlich für eine unabhängige Westsahara demonstrieren. In der nächsten Szene liegen sie am Boden und werden von marokkanischen Polizisten gegen den Kopf und in den Bauch getreten. Auf anderen Aufnahmen zeigen die Frauen ihre schweren Verletzungen, am Gesäss oder an den Augen etwa.
Was Lahsen erzählt, wird von internationalen Menschenrechtsorganisationen bestätigt: Es gibt willkürliche Verhaftungen, Folter, Missbrauch. Und doch dringt kaum etwas an die Öffentlichkeit, denn das marokkanisch kontrollierte Gebiet ist für JournalistInnen nicht zugänglich.
Radikalisierung der Proteste
Die Repression habe zugenommen, sagt Lahsen. Das radikalisiere die Jugend, auch hier in den Flüchtlingslagern. Die Verzweiflung steigt, vor allem darüber, dass die Welt die Lage der Sahrauis nicht zur Kenntnis nimmt. So nahm vor vier Jahren ein Jugendlicher bei einer Kundgebung in der Nähe des Sandwalls Tod und Verstümmelung in Kauf: Er trat absichtlich auf ein Minenfeld. Eine Mine sprengte sein Bein weg. Er schaffte es gerade noch, das Victoryzeichen zu machen, bevor er zu Boden ging.
Viele Sahrauis, vor allem die Jungen, haben es satt zu warten. All die diplomatischen Bemühungen, all die gewaltlosen Aktionen, die die Aufmerksamkeit auf ihre verzweifelte Lage richten sollten, scheinen wenig gefruchtet zu haben. Sie wollen wieder zu den Waffen greifen.
Wir fahren in eines der Flüchtlingslager, um Kommandanten des Frente Polisario zu besuchen. Es ist lediglich über eine Sandpiste erreichbar. Das Lager besteht aus niedrigen Lehmhäusern und Beduinenzelten, verstreut in der sandigen Weite. Ein paar Ziegen suchen in einem umgestürzten Autowrack Schutz vor der gnadenlosen Sonne. Barfüssige kleine Mädchen mit kecken Frisuren rufen uns etwas zu.
Eine Gruppe von Kommandanten erwartet uns in einem Zelt. Der traditionelle Tee wird gereicht, sorgfältig zubereitet von unserem Gastgeber, einem hohen Militär. Er trägt eine Tarnuniform, Militärstiefel, und trotz der Gluthitze hat er keinen einzigen Schweisstropfen auf dem Gesicht. In einer Ecke steht ein Fernseher, flankiert von rosaroten Papierblumen. Es läuft France 24. Dieser Sender sei besser und unparteiischer als al-Dschasira oder al-Arabia, sagt man uns. Überhaupt: Das demokratische Europa sei ihr Vorbild, nicht die arabische Welt – zu der die Sahrauis eigentlich gehören.
Sind sie, die Militärs, einverstanden mit dem Vorgehen ihrer Führung, die auf die Kraft der Diplomatie setzt? «Alle, Jung und Alt, sind bereit, wieder Krieg zu führen, um so das Referendum zu erzwingen», sagt einer der älteren Kommandanten. «Aber unsere Führung hat einen anderen Weg gewählt. Wir stehen hinter ihr.» Ein jüngerer Militär ergänzt: «Die Jungen wollen wieder kämpfen. Sie waren, im Gegensatz zu uns, nie im Krieg. Sie wissen nicht, was Krieg bedeutet.» Das Polisario-Kader versuche, sie zu überzeugen, dass es andere Optionen gibt. «Aber Krieg ist auch eine Option. Wir sind nicht hier, um durchgefüttert zu werden. Wir wollen unsere Freiheit.»
Der Tee ist getrunken, der Gastgeber reinigt die Teegläser sorgfältig und trocknet sie mit einem sauberen Tuch. Dann zieht er seine Stiefel aus und betet. Es ist friedlich. Niemand weiss, wie lange noch.
Rohstoffe: Glencore bohrt in der Westsahara
Nach dem Waffenstillstand 1991 sah ein UN-Friedensplan ein Referendum vor, bei dem die BewohnerInnen der Westsahara zwischen Selbstbestimmung und Autonomie innerhalb Marokkos wählen können. Bis heute wird die Abhaltung dieser Abstimmung von Marokko – unterstützt von seinen mächtigen internationalen Verbündeten wie Frankreich – hintertrieben.
Der von Marokko besetzte Teil der Westsahara ist reich an Ressourcen: an Phosphat etwa, das fleissig abgebaut wird. Dazu kommen fischreiche Gewässer an den Küsten, und auch die Landwirtschaft gibt einiges her. Die Sahrauis empfinden das als Plünderung ihrer Reichtümer. Jetzt könnte auch noch Öl dazukommen. Denn mehrere internationale Grosskonzerne stehen kurz vor Erkundungsbohrungen vor den Küsten der annektierten Westsahara.
Mit dabei ist der in der Schweiz beheimatete Rohstoffgigant Glencore. Eine Tochterfirma von Glencore hat Lizenzen für die Erschliessung der dortigen Offshore-Erdölvorkommen erworben, wie die entwicklungspolitische Organisation Erklärung von Bern schreibt. Die Lizenzen habe Marokko ohne Einwilligung der einheimischen Bevölkerung vergeben. Die Sahrauis und mit ihnen viele ExpertInnen befürchten, dass die Ölbohrungen den Friedensprozess abermals verzögern. Denn bei der Aussicht auf Ölgelder wird Marokko die Westsahara wohl erst recht nicht in die Unabhängigkeit entlassen.
Judith Huber