China: «Wir sind doch nicht wegen dir persönlich hier»

Nr. 2 –

Ist die Volksrepublik ein Rechtsstaat, dessen BürgerInnen sich darauf verlassen können, dass sie den Gesetzen entsprechend behandelt werden? So weit ist das System noch lange nicht. Aber es gibt positive Ansätze.

Der Richter zieht seine Augenbrauen zusammen. Sein Blick wird streng – und trifft den Kläger. Das ist ein Mann in zerrissener Kleidung, der hereingestürzt war und aufgeregt seinen Fall vorbringt: Sein Schwein ist überfahren worden; er fordert Schadensersatz. Dann kommt auch der Angeklagte. Er trägt ein besticktes Seidenhemd, schlendert gemächlich in den Raum, wird vom Richter mit Namen begrüsst und darf sich setzen. Als sich daraufhin der Bauer von seinen Knien erheben will, staucht ihn der Richter zusammen: Wer ihm denn erlaubt habe aufzustehen?

Die Vorführungen finden täglich im Hof des Yamen statt, des über 600 Jahre alten Verwaltungs- und Gerichtsgebäudes von Pingyao, der Kleinstadt in der Provinz Shanxi, die 1997 zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Diesmal haben sich rund zwanzig einheimische TouristInnen hinter einem roten Absperrband versammelt und verfolgen, fleissig fotografierend, wie «in der alten Zeit» ein Gerichtsprozess ablief.

Von der Zivilgesellschaft lernen

Ganz so fern, wie das Schauspiel glauben macht, ist die alte Zeit mit ihrer Ungerechtigkeit allerdings nicht. Es gibt allein aus den letzten fünf Jahren eine Menge Beispiele, die das, was beim Schauspiel gleich noch folgen wird, leicht in den Schatten stellen. Da ist etwa der Fall des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, der immer noch in Haft sitzt. Über Wochen hinweg hatte 2010 ein Sprecher des Aussenministeriums die Frage ausländischer JournalistInnen nach der Rechtsgrundlage für den Hausarrest für Lius Ehefrau Xia mit dem Satz beantwortet: «Ich kenne diese Person nicht.» Da ist auch die Geschichte des Beijinger Wirtschaftsprofessors Ilham Tohti, der im September 2014 in Ürümqi – der Hauptstadt der Unruheprovinz Xinjiang – wegen «Separatismus» zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, obwohl sein Wohnsitz seit Jahren in der Beijinger Nationalitäten-Universität ist. Und noch haben nicht alle vergessen, dass der Tod des Untersuchungshäftlings Li Qiaoming 2009 damit erklärt wurde, dass er sich beim Blinde-Kuh-Spielen in der Zelle den Kopf gestossen habe.

Ist also in der Volksrepublik alles noch viel schlimmer als in der «alten Zeit»? Nein. Denn es lassen sich auch Gegenbeispiele finden. So werden seit 2007 alle Todesurteile, die früher unmittelbar nach der Urteilsverkündung vollstreckt wurden, vom Höchsten Gericht überprüft, das seit März 2013 von einem ausgebildeten Juristen geleitet wird. Das hat die Anzahl der Hinrichtungen – die genauen Angaben sind Staatsgeheimnis – Schätzungen zufolge um mehr als ein Drittel reduziert. Ausserdem schaffte die Regierung die als «Umerziehung durch Arbeit» bezeichnete und oft willkürlich verhängte Administrativhaft 2013 ab. Sie lässt auch die Einhaltung der Umweltgesetze strenger überwachen – und sich dabei sogar von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen helfen.

Als etwa 2013 Ding Wenguang von der Umweltorganisation Lucwesd in einer Zeitschrift auf die Zerstörung des Graslands auf dem Hochplateau von Gansu durch den Bau der Bahnschnellstrecke von Lanzhou nach Ürümqi aufmerksam gemacht hatte, wurde das Eisenbahnministerium zu einer riesigen Geldstrafe verurteilt. Als Anfang 2014 die Umweltgruppe Chongqing Volunteers auf einer Internetplattform einen Bericht veröffentlichte, demzufolge viele der gesetzlich vorgeschriebenen Umweltaudits von dafür nicht qualifizierten (und zugelassenen) Agenturen erstellt würden, reagierten die Behörden schnell. «Inzwischen wurden dreissig dieser Agenturen bestraft und drei geschlossen», freut sich Chongqing-Volunteer-Leiter Xiang Chun: «Und ab dem 1. Januar 2015 werden die Umweltgesetze verschärft und die Strafen verzehnfacht.»

Aber reichen strengere Strafen aus? Kommt es nicht eher darauf an, dass durch die wachsende Zahl gut ausgebildeter AnwältInnen ein neues Rechtsbewusstsein entsteht? «Ha!», ruft da Liu Baocheng, Wirtschaftsprofessor an der Beijinger University for International Business and Economics und gleichzeitig Leiter des Center for International Business Ethics – er kann über so viel Naivität nur lachen: «Rechtsanwälte, das sind doch nur die Broker zwischen Macht und Geld!» Auch Zhang Wei von der Behindertenrechtsorganisation Enable Institute hält nicht viel von den chinesischen AnwältInnen. Noch nicht einmal von den sogenannten MenschenrechtsanwältInnen. «Neunzig Prozent von denen nennen sich nur so», sagt Zhang. «Wirklich um Gerechtigkeit geht es vielleicht gerade mal siebzig richtigen Anwälten im Land, die anderen betreiben nur Marketing.»

«Yi fa zhi guo» statt «fazhiguo»

Zhang sitzt im 14. Stock des Yufei-Turms nahe dem Beijinger Verkehrsknotenpunkt Dongzhimen. Bei mittelguter Luft kann man bis zum Olympiaturm sehen, bei guter bis zu den Bergen im Norden Beijings. Sein Büro ist schön – wenn auch nicht ganz legal. Denn die Baugenehmigung für den Yufei-Turm reicht nicht bis zu seinem Stockwerk. «Im Fernsehen ist stets von ‹yi fa zhi guo› die Rede, und alle übersetzen das immer mit ‹Rechtsstaat›», sagt Zhang. «Das heisst aber gar nicht Rechtsstaat. Es heisst: mit dem Gesetz das Land regieren. Rechtsstaat heisst ‹fazhiguo›, das ist nicht dasselbe» (vgl. «Verständnisprobleme» im Anschluss an diesen Text).

In China, so Zhang, «sind Menschenrechte kollektive Menschenrechte», und was das genau bedeute, sei offen für Interpretation: «Die Begriffe sind oft mit anderen – genau entgegengesetzten – Inhalten gefüllt.» Aber eins, so fügt er hinzu, «muss man sagen: Die Regierung bedient sich wirklich immer mehr juristischer Mittel, wenn sie gegen dich vorgeht. Die Partei greift jetzt viel seltener zu Mafiamethoden.»

Das können jedoch nicht alle bestätigen – schon gar nicht Huang Caigen, der seit 2009 eine Beratungsstelle für WanderarbeiterInnen in Yongkang betreibt (siehe WOZ Nr. 31/2011 ). Als er am Abend des 15. Oktober nach dem Begräbnis seines Vaters in die Stadt zurückkehrte, wartete der «neue Eigentümer» vor seinem Büro, einer umgebauten Garage. Huang müsse sofort ausziehen, widrigenfalls würden das die vier jungen Männer, die er schon mal mitgebracht hatte, für ihn erledigen. Die begannen dann auch, Huangs Büroeinrichtung auf die Strasse zu tragen. Huang rief den Notruf 110. Nach gut einer Viertelstunde kamen zwar Polizisten, erklärten dann aber, dass es sich um einen privaten Streit handle. Wenn es Probleme gebe, könne Huang beim Gericht Anzeige erstatten. Erst nachdem von Huang eilig herbeitelefonierte Wanderarbeiter eingetroffen waren, stoppte der Umzug. Die Kollegen halfen ihm dann auch, die Büroeinrichtung wieder hineinzutragen.

Was dem Sozialaktivisten in der Halbmillionenstadt Yongkang südwestlich von Schanghai widerfuhr, ist kein Einzelfall. Vor allem in der industriellen Arbeitswelt schüchtern Behörden und Unternehmen mit teils brachialen Methoden Widerspenstige ein. Proteste gegen miserable Arbeitsbedingungen und minimale Löhne sind deswegen kaum möglich, StreikaktivistInnen werden verhaftet, Konferenzen zum Thema «kollektives Verhandeln» verboten.

Aufmarsch einer Antiterroreinheit

Kurz vor Mitternacht desselben Tages hörte Huang das Poltern. Kurz danach drangen dunkle Gestalten in sein Büro ein und drehten ihm die Arme auf den Rücken. Erst als er in eine Hand biss, die ihm den Mund zuhielt, hörten NachbarInnen seine Hilferufe und alarmierten die Polizisten in der Wache schräg gegenüber – doch diese nahmen nicht Huangs Angreifer mit, sondern ihn selbst. Arbeitserfahrung, Familienstand, Aufenthaltserlaubnis: Alles wollte man dort von ihm wissen, nur nicht den Tathergang. Als er Stunden später freigelassen wurde und zum Büro zurückkehrte, lagen seine Akten im Dreck, die Schlösser waren ausgetauscht. NachbarInnen erzählten ihm, dass kurz nach seiner Einvernahme eine Antiterroreinheit alle Strassen sowie die umliegenden Hotels und Herbergen abgesperrt habe, dann sei ein Lastwagen mit verdeckter Nummer gekommen; danach hätten über ein Dutzend Personen in Zivilkleidung das Büro in Minuten komplett ausgeräumt. Mindestens einen davon hatte einer von Huangs Kollegen zuvor schon mal gesehen – in Polizeiuniform.

Einen Tag später verkündete ein neuer, Huang völlig unbekannter Hauseigentümer, dass er seine Unterlagen und Möbel zurückbekommen könne, wenn er die Sache damit als erledigt betrachte. «Die haben sogar 8000 Yuan Entschädigung gezahlt», sagt Huang, umgerechnet 1260 Franken. Entschädigung – von der Polizei? «Nein», sagt Huang. «Die haben den Eigentümer vorgeschoben. Der hat mir das Geld angeboten, weil das Ende des Mietvertrags noch nicht erreicht war.» Immerhin. Und der Angreifer, dem er zuvor in die Hand gebissen hatte, so erzählt Huang, habe ihm gesagt: «Sieh mal, ich habe dich nicht mal geschlagen, als du mich gebissen hast. Wir sind doch nicht wegen dir persönlich hier.»

Die Vorführung in Pingyao neigt sich ihrem Ende zu. Inzwischen hat der Kläger – wegen Beleidigung des Richters – Schläge mit einem grossen paddelähnlichen Stock bekommen. Danach wurde er zu einer hohen Geldstrafe wegen Störung des Strassenverkehrs verurteilt. Da er die nicht bezahlen kann, soll sein Besitz gepfändet und er ins Gefängnis geworfen werden. «Sperrt den Kerl ein», donnert der Richter. Die Vorführung ist beendet. Abschliessend wendet sich der Schauspieler noch einmal direkt an das Publikum, das zwar wegen all der Smartphones, Tablets oder teuren japanischen Spiegelreflexkameras in der Hand nicht klatschen kann, das aber – das sieht man den Gesichtern an – zufrieden ist. So schlimm war das früher! Und einander zunickend wiederholen sie den letzten Satz des strengen Richters: «Die Tore des Yamen sind weit geöffnet, doch wenn du reinkommen willst, dann bringe Geld mit.»

Verständnisprobleme

«Der Rechtsstaat ist Grundlage für eine funktionierende Marktwirtschaft», soll das vierte Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (KP) beschlossen haben. So interpretierten jedenfalls die westlichen Medien dessen Abschlusscommuniqué Ende Oktober – und berichteten dann ausführlich über die verbreitete Korruption unter den KP-Kadern und darüber, dass die anhaltende Rechtsunsicherheit ausländische InvestorInnen verunsichere.

Dabei war in der Originalfassung des KP-Statements nie von «Rechtsstaat» die Rede. Qiang Shigong, Juraprofessor an der Universität von Beijing, erläuterte vor kurzem in einem Interview die Begrifflichkeiten. Natürlich sei die Verfassung von 1982 eine Verfassung, sagt er. Aber das englische Wort dafür («constitution») enthalte eben auch die Bedeutungen «zusammenfügen», «gründen», «etablieren». Und so gesehen sei auch die Satzung der KP eine Art «Verfassung», da sie dem Aufbau diene und die Partei beim Regieren des Landes anleite.

«Regieren durch Gesetze» nennt sich das chinesische Pendant zur westlichen «Rechtsstaatlichkeit». Es dient schlicht und einfach dem Machterhalt.