China: Das Huhn schlachten, um den Affen zu erschrecken
Zeitgleich mit der Vergabe der Olympischen Winterspiele 2022 an Beijing geht die chinesische Führung massiv gegen Anwälte und Aktivistinnen vor, die sich für Menschenrechte einsetzen.
Wenn Wang Baocheng die Geschichte erzählt, dann geht sie so: «Es war einmal ein Mann namens Xu Chunhe. Der kam aus der Provinz Heilongjiang. Er hatte eine alte Mutter und drei Kinder zu versorgen. Dem fühlte er sich nicht gewachsen. Deswegen wollte er seine Mutter in einem Altenheim und die Kinder in einem Kinderheim unterbringen. Aber die staatlichen Heime nehmen nur Alte ohne Kinder oder Vollwaisen auf. Xu reichte deswegen Petitionen ein. Viele. Sogar so viele, dass die Polizei anfing, ihn ständig im Auge zu behalten, ihm überallhin zu folgen. Als Xu dann im Mai am Bahnhof von Qingan in einen Zug in die Provinzhauptstadt steigen wollte, wurde er festgehalten und geschlagen.»
Wang schüttelt vorwurfsvoll den Kopf. Er selbst ist ein Aids-Aktivist. Der etwas untersetzte Mann Mitte vierzig, sehr einfach, aber immer korrekt gekleidet, versucht, den HIV-Positiven aus den Provinzen Hebei und Henan immer wieder zu erklären, dass es ihnen nichts nützt, wenn sie nach Beijing kommen, um sich zu beschweren – oder gar um zu demonstrieren. In Workshops für deren kleine Selbsthilfegruppen legt er ihnen nahe, Daten zu sammeln – wenn ihnen zum Beispiel in einem Krankenhaus die medizinische Behandlung verweigert wird: wo, wann, wem. Die Liste soll dann von möglichst vielen unterschrieben werden. Und dann müsse man das direkte Gespräch suchen: mit den Verantwortlichen im Gesundheitsamt, mit den Krankenhausverwaltungen, mit ÄrztInnen.
AnwältInnen ohne Zulassung
«Der Polizist schlug Xu mit einem Stock», nimmt Wang den Faden wieder auf. «Um die Schläge abzuwehren, griff Xu danach – woraufhin der Polizist den Stock sofort losliess. Stattdessen zog er seine Dienstwaffe und schoss Xu nieder. Vor den Augen seiner alten Mutter und der kleinen Kinder.» Nun kam die Mutter natürlich schon in ein Altenheim. Aber zu Ende ist die Geschichte deswegen noch nicht. Die alte Mutter nahm die ihr angebotenen 200 000 Yuan (rund 31 000 Franken) Entschädigung nicht an. Um die Polizei zu verklagen, suchte sie sich einen Anwalt.
Schwer zu finden. Denn chinesische AnwältInnen dürfen nur dann praktizieren, wenn sie in einer Kanzlei angestellt sind und sich jährlich neu beim Justizministerium anmelden. Für manche MenschenrechtsanwältInnen ist beides ein Problem. Sie verlieren ihre Zulassung. So werden aus ihnen dann «MenschenrechtsaktivistInnen». Sein Freund Wu Gan, ein bekannter Aktivist aus Jiangxi mit dem Spitznamen «der Schlachter», habe sich eine Kopie des Videos von der Sicherheitskamera aus der Bahnhofshalle besorgt, nimmt Wang den Fall wieder auf. «Aber drei angereiste Anwälte wurden von der lokalen Polizei verhaftet.» Daraufhin protestierten landesweit über 600 AnwältInnen mit einer Unterschriftensammlung gegen diese Festnahmen.
Wenn aber die chinesische Regierung etwas überhaupt nicht leiden kann, dann sind das landesweite Solidaritätsaktionen, erst recht nicht von unabhängigen Organisationen. «Schlachter» Wu wurde verhaftet. Seine Beijinger Anwältin Wang Yu (die schon den uigurischen Wirtschaftsprofessor Ilham Tohti verteidigt hatte) wurde verhaftet. Mehrere von Wangs KollegInnen in der Fengrui-Kanzlei, unter anderem Huang Liqun, Liu Sixin, Wang Quanzhang und ihr Chef Zhou Shifeng (der gerade die Freilassung der «Zeit»-Mitarbeiterin Zhang Miao erreicht hatte, die neun Monaten ohne Anklage in Haft war) wurden verhaftet. Auch AnwältInnen, die mit der Fengrui-Kanzlei in engerem oder lockererem Kontakt standen, wurden verhaftet.
Auf der Seite der Grapscher?
In der Version der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua sei das Eingreifen von AnwältInnen der Kanzlei Fengrui im Fall der «rechtmässigen Erschiessung» Xus am Bahnhof von Qingan ein Beispiel für die «schwere Störung der öffentlichen Ordnung». Aids-Aktivist Wang sagt, es handle sich hier um einen typischen Fall von «das Huhn schlachten, um den Affen zu erschrecken»: jemanden für ein abschreckendes Beispiel opfern. Die AnwältInnen seien nun gewarnt. Ziel erreicht.
Wang selbst sieht aber nicht verschreckt aus, höchstens vorwurfsvoll. Als im März fünf Feministinnen verhaftet wurden, weil sie für den Internationalen Frauentag eine Aktion gegen sexuelle Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln geplant hatten, wollte er von dem für ihn zuständigen Staatssicherheitsmitarbeiter wissen, auf welcher Seite Chinas Sicherheitskräfte eigentlich stünden: «Auf der der Opfer oder auf der der Grapscher?» Darauf hat der Herr natürlich nicht geantwortet. Aber er hat Wang vorgeworfen, dass er mit seinem aus dem Ausland finanzierten Projekt die soziale Stabilität untergrabe. «Von wegen», antwortete Wang wiederum. «Wenn die Regierung oben keinen Machtkampf austrägt, dann ist China doch eh stabil.»
Vorsorge für die Wirtschaftskrise
Andere AktivistInnen sind da anderer Meinung. Der Arbeitsrechtsaktivist Liang Ping geht zum Beispiel davon aus, dass sich Chinas Regierung auf eine bevorstehende Wirtschaftskrise vorbereitet. «Nach dreissig Jahren exportgetriebenem Wachstum kommt ein Einbruch. Das war in Japan in den achtziger Jahren so. Das war in Taiwan in den neunziger Jahren so. Um weiterhin an der Macht zu bleiben, wird jetzt schon vorsorglich jede potenzielle Opposition ausgeschaltet.» So lässt sich das harte Vorgehen gegen ArbeiterInnen-NGOs erklären. Und auch das neue Sicherheitsgesetz, das am 1. Juli in Kraft getreten ist, und das geplante Gesetz gegen ausländische NGOs, mit dessen Verabschiedung noch in diesem Jahr gerechnet wird.
Aber unbeeindruckt von Machtkämpfen, Rezessionen, Verhaftungswellen oder neuen Gesetzen werden die von Wang ausgebildeten Blut- oder BlutplasmaspenderInnen, Bluterkranken, Homosexuellen, Sexarbeiterinnen oder DrogenkonsumentInnen weiter bei den verschiedensten Stellen vorsprechen. Ordentlich angezogen, gut vorbereitet und in ruhigem Ton. Nur vor Gericht klagen oder Petitionen einreichen werden sie nicht.
Denn selbst wenn Wang felsenfest glaubt, die Erschiessung Xus am Bahnhof von Qingan habe wirklich nur etwas mit dessen familiärer Überlastung und nichts mit dessen Korruptionsvorwürfen gegen den lokalen Parteisekretär Dong Guosheng zu tun: An Chinas Rechtsstaatlichkeit und an das Märchen, dass alles gut wird, wenn doch nur die Oberen in Beijing davon wissen, daran kann Wang beim besten Willen nicht glauben.
Zwei Versionen
Auf der Website der in Hongkong ansässigen Anwalts-NGO China Human Rights Lawyers Concern Group gibt es alle paar Tage ein Update der Situation: Bis zum 3. August sind demnach mindestens 265 chinesische AnwältInnen, Kanzleiangestellte oder MenschenrechtsaktivistInnen entweder verhaftet oder vorgeladen worden.
Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua meldet dagegen unter Berufung auf die Beijinger Polizei, dass die Fengrui-Kanzlei zum Kern einer Organisation zähle, die über vierzig illegale Demonstrationen finanziert, die öffentliche Meinung manipuliert und im Internet Gerüchte fabriziert habe, um Gerichtsentscheidungen zu beeinflussen. Und dass die verhafteten AnwältInnen bereits über ihre Verbrechen nachgedacht und deren schädliche Folgen eingesehen hätten.