En passant: Schlange stehen in China
Es ist noch nicht lange her, da stand in China das Neujahrsfest vor der Tür – und vor der Tür standen auch Hunderte von WanderarbeiterInnen, die verzweifelt versuchten, noch eine Bahnfahrkarte nach Hause zu ergattern. Sie warteten vor Bahnhöfen und vor den Verkaufsstellen in den Städten. Chinesische MikroblogleserInnen amüsierten sich deswegen über den folgenden Witz: «Ein Wanderarbeiter hat eine lange Schlange entdeckt und sich angestellt. Erst Stunden später fand er heraus, dass es sich hier um die Schlange vor dem grössten Apple Store in China handelt.»
Die WanderarbeiterInnen fanden das vielleicht nicht ganz so witzig. Immerhin hatten sie sich mit dem bisherigen Verfahren arrangiert gehabt: Sie stellten sich schon am Vorabend an, um am nächsten Morgen weit vorne in der Billettschlange zu stehen. Ihnen kam das fair vor. Inzwischen aber können InternetnutzerInnen auf einer Website des Eisenbahnministeriums schon zwölf Tage vor Abfahrt Fahrkarten reservieren: Das Anstehen vor den Schaltern nützt also nichts mehr. «Ich arbeite in einer Werkzeugfabrik in einem Vorort von Wenzhou», sagte Huang Qinghong. «Keiner von uns vierzig Arbeitern kann einen Computer benutzen. Unser Boss wollte uns beim Billettkauf helfen», berichtet er, «aber der hat nur seine Zeit verschwendet. Entweder er kam nicht durch, oder es gab schon keine Fahrkarten mehr.» Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, «dann hätten wir ein Onlinebankkonto eröffnen müssen. Aber wir sind Wanderarbeiter, keine Angestellten. Woher sollen wir wissen, wie man so was einrichtet?», fragte der 37-Jährige aus Chongqing. «Ich habe meine sechsjährige Tochter schon so lange nicht mehr gesehen», klagte er. «Ich weiss nicht, ob sie gewachsen ist und wie viele Zeichen sie jetzt kann. Die Fahrt mit der Bahn kostet 190 Yuan [umgerechnet 29 Franken], mit dem Bus sind es 560!» Er meckere ja schon ein bisschen an seiner Tochter herum, weil die so viele Wünsche hat. «Wenn ich jetzt das Geld für sie ausgeben könnte …»
Besonders witzig fanden es dann allerdings auch die InternetenthusiastInnen nicht, als der Beijinger Apple Store noch vor dem Neujahrsfest seine Türen verschlossen hielt – wegen zu langer Schlangen. Es kam zu Rangeleien, Hühnereier flogen. Die Polizei sperrte das Geschäft ab. Danach hing dort ein Schild: «In der nächsten Zeit» gebe es kein iPhone 4S zu kaufen. Nur online sei das Gerät noch zu haben – allerdings für einen Aufpreis, der das Geschenk, das Huang Qinghong seiner Tochter gerne gemacht hätte, um das Vierzehnfache übersteigt.
Wolf Kantelhardt berichtet regelmässig für die WOZ aus China.