Ulrich Beck (1944–2015): Demokratisch verteiltes Risiko

Nr. 2 –

Mit dem Soziologen Ulrich Beck ist ein engagierter Intellektueller gestorben, der mit dem Begriff der Risikogesellschaft den Nerv der Zeit getroffen hat.

Der Begriff Krise mutet modern an. Krisenerscheinungen, seien sie persönlicher, gesellschaftlicher oder ökologischer Art, markieren einen Bruch, eine kathartische Wendung, aus der das Individuum oder die Gemeinschaft erneuert hervorgeht, geneigt, daraus zu lernen und sich gegen eine neue Krise zu versichern. Der aus den Unwägbarkeiten des aufkommenden Industriesystems erwachsene Versicherungsgedanke etwa war der rationale Reflex auf derartige im Nachhinein berechenbare Krisen.

Doch wissenschaftliche Entwicklung und Globalisierung bringen Risiken hervor, die mathematisch nicht mehr zu extrapolieren sind, denn es handle sich, so der Anfang dieses Jahres verstorbene Soziologe Ulrich Beck in einem Interview, «um Katastrophen, die wir noch nicht erfahren haben und die wir auf keinen Fall erfahren dürfen».

Ein theoretischer Tsunami

Eine solche, das herkömmliche Versicherungsdenken erschütternde Krise war die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986. Damals lag Ulrich Becks Buch «Risikogesellschaft» bereits in der Druckerei. Es wurde, mit einem neuen, brandaktuellen Vorwort versehen, in den diskursiven Kreislauf eingespeist, wo es wie ein theoretischer Tsunami wirkte. Die in einer tiefen Legitimations- und Deutungskrise steckende Soziologie hatte plötzlich wieder eine Galionsfigur. Das Werk las sich wie ein Kommentar auf einen Epochenbruch, den die mittendrin lebenden ZeitgenossInnen erst verzögert wahrnahmen.

Eine der Erfahrungen aus Tschernobyl war, dass der GAU sich lokal und sozial nicht begrenzen liess: Die radioaktive Wolke legte sich über Grenzen hinweg und über alle, die darunter wohnten. Das deckte sich mit Becks Beobachtung, dass sich das Risiko nicht mehr hierarchisch verteilt wie noch zu Beginn der Industriegesellschaft, sondern demokratisch: Eine ökologische Krise trifft scheinbar alle gleichermassen, eine ökonomische rafft auch die Mittelschichten hinweg, und selbst die Familie ist kein Versicherungssystem mehr.

Die Solidaritätsstrukturen lösen sich auf, Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen von Männern und Frauen werden «freigesetzt», so Beck über den allgemeinen Individualisierungstrend, der nur jeden Mensch auf sein persönliches Schicksal zurückwirft. Und was ihm ursprünglich zum Nutzen dienen sollte, nämlich ökonomischer und technischer Fortschritt, birgt inzwischen ein nicht mehr berechenbares Bedrohungspotenzial, das die globalisierte Welt in einen Zustand permanenter Selbstgefährdung versetzt.

Gelegentlich naiv

Aber der 1944 geborene, im saturierten, risikoabgewandten München lehrende Ulrich Beck war auch ein Kind des deutschen Wiederaufstiegs- und Fortschrittsglaubens. Die Verallgemeinerung des Risikos, so seine Analyse, berge Chancen in Form demokratischer Einflussnahme ausserhalb einer Wissenschaft, die selbst zum Risiko werde, und ausserhalb von Machtarenen, die das Risiko produzieren.

Das verführte den scharfen und scharfzüngigen Denker zu appellativen, gelegentlich naiven Interventionen gegen die «neoliberale Ökonomisierung der Politik», wie er es in seinem thematischen Folgebuch «Weltrisikogesellschaft» nannte, zuletzt in dem 2012 zusammen mit Daniel Cohn-Bendit publizierten «Manifest zur Neugründung von Europa von unten».

Ulrich Becks Verdienst ist es, grundlegend verändert wahrgenommene, nicht mehr auf Erfahrungswerte zurückzuführende Krisen auf einen Begriff – den des Risikos – gebracht zu haben. Theoretisch mag der Risikobegriff zwar nicht unbedingt belastbar sein. Über den engen Wissenschaftsdiskurs hinaus jedoch erwies er sich als anschlussfähig, und er verhalf dem nervöser werdenden Zeitgeist zum Ausdruck.

Vom Wissenschaftstyp her demokratisch sowie im Multitasking zwischen Akademie und Feuilleton pendelnd und lieber mit dem Florett die offene Bühne suchend, bildete Ulrich Beck keine soziologische Schule mehr wie etwa Niklas Luhmann. Als ob er das Risiko gescheut hätte, seine Theorie generationenübergreifend winterfest zu machen.