Zeitdiagnostik: Der Chefbeamte für Verlustängste
Der Soziologe Andreas Reckwitz bietet einen Generalschlüssel zur Erklärung der Gegenwart und ihrer Krisen. Seine Analyse wird viel gelobt, bleibt aber unscharf.
Es gibt nicht nur Pop-, Porno-, Hollywood- und neuerdings Social-Media-Stars. Auch der an sich unglamouröse Wissenschaftsbetrieb bringt Berühmtheiten hervor. Im deutschsprachigen Raum wäre hier derzeit vor allem an Andreas Reckwitz zu denken: Der in Berlin lehrende Gesellschaftswissenschaftler wird in den Medien gern mal als «Starsoziologe» gehandelt, mitunter gar als «Superstar» («Welt»). Tatsächlich finden seine Bücher längst nicht nur in Fachkreisen ihr Publikum. Seine Monografie «Die Gesellschaft der Singularitäten» war ein in mehrere Sprachen übersetzter Bestseller, und auch sein neues Buch, «Verlust. Ein Grundproblem der Moderne», wird fast durchweg gelobt.
Nun mag der Soziologe selbst zwar eine Art Star sein, sein jüngstes Werk jedoch rückt den Blick auf diejenigen, die so etwas wie das Gegenstück dazu sind: die vielen Verlierer:innen, die ebenfalls von den Verhältnissen produziert werden. Und von diesen gibt es, wenn man Reckwitz’ Argumentation folgt, heute mehr denn je: Ja, im Grunde sind wir alle zunehmend mit Verlusterfahrungen konfrontiert.
Verlustunternehmer Trump
Diese Verluste stehen im Zentrum des Buchs, das sich an einem Panorama unserer «spätmodernen» Gegenwart versucht. Reckwitz’ Kernthese dabei lautet, dass die Spätmoderne – die jüngste, aber nicht zwingend letzte Etappe der Moderne – eine «Verlusteskalation» mit sich bringt. Politisch relevant ist das deswegen, weil diese Eskalation unter anderem den Vormarsch des internationalen Rechtspopulismus befeuere – zuletzt etwa Donald Trumps Wiederwahl zum US-Präsidenten. «Im Populismus dreht sich alles um Verluste», schreibt Reckwitz: siehe etwa die Klagen über den Verlust früherer imperialer Grösse («Make America Great Again») oder den eines ehemals angeblich homogenen Staatsvolks. Populismus sei daher «politisches Verlustunternehmertum», so der Soziologe.
Die Irritation darüber, dass Reckwitz mit «Verlust» einen eher diffusen Begriff aus der Alltagssprache in den Fokus rückt, ist gewollt. Für ihn ist es bezeichnend, dass dieser «kein etablierter Begriff im Mainstream-Denken der Modernisierung» ist und es bislang auch keine «systematische Soziologie des Verlusts» gibt. Nach 1945 sei die Gesellschaftswissenschaft nämlich «vom Paradigma der Modernisierung geprägt gewesen», das wiederum im Bann eines «geschichtsphilosophischen Fortschrittsmodells» gestanden habe. Zwar habe man auch früher schon versucht, die Schattenseiten der Modernisierung herauszuarbeiten, nie aber in voller Konsequenz.
Die vielen Krisen der Gegenwart – etwa die Klimakrise oder die der liberalen Demokratie – machen für Reckwitz eine Neujustierung des Blicks notwendig: Immerhin ist es bezeichnend, dass heute das, was noch kommen mag, anders als noch in den seligen Sechzigern eher als Bedrohung denn als Verheissung von mehr Wohlstand und Freiheit erscheint. «Einer als berechenbar und fortschrittlich wahrgenommenen jüngeren Vergangenheit steht jetzt eine potenziell katastrophische Zukunft mit unberechenbaren Folgen gegenüber», schreibt Reckwitz: Man erwartet für diese etwa den Verlust einer intakten Biosphäre oder denjenigen elementarer Freiheitsrechte.
Allerdings sei das Fortschrittsdenken nicht an allen Fronten im Rückzug. Vielmehr gehe die wachsende Skepsis gegenüber der Zukunftsfähigkeit des grossen Ganzen einher mit steigenden Erwartungen an die Möglichkeiten zur eigenen Selbstverwirklichung. «Das kollektive Fortschrittsversprechen», das frühere Epochen geprägt habe, verwandle sich so «in ein subjektives Glücksversprechen». Aber auch diese Verschiebung (die ja auch viel über die Niederlagen der Linken in den letzten fünfzig Jahren erzählt) erweise sich letztlich als «ein Faktor spätmoderner Verlustpotenzierung»: Je intensiver der oder die Einzelne nach individueller Erfüllung strebt, desto grösser das Risiko, Enttäuschungen zu erleben.
Auch Haustiere sterben
Der Konfrontation mit Verlusten ist also kaum zu entkommen, und dieser Eindruck verstärkt sich mit jedem Kapitel, in dem Reckwitz mit einer an einen preussischen Verwaltungsbeamten erinnernden Akribie Verlusterfahrungen verzeichnet, ausdeutet und systematisiert. Nur ist Reckwitz’ Schlüsselbegriff so allgemein, dass man darunter sehr, sehr viel subsumieren kann: Der Verlust des Glaubens an die Zukunft ist dann genauso eine Verlusterfahrung wie das Verschwinden des Sicherheitsgefühls in Europa infolge russischer Aggression, der Abbau des Sozialstaats oder auch – auf individueller Ebene – das Scheitern beruflicher Ambitionen oder der Tod eines geliebten Menschen oder gar Haustiers.
Begriffe aber, die derart umfassend sind, werden unscharf: Nachts sind alle Katzen grau. Reckwitz weist zwar mit beeindruckender Sorgfalt nach, dass man alles Mögliche als Verlustphänomen beleuchten kann; ob eine solche Perspektive jedoch immer aufschlussreich ist, steht auf einem anderen Blatt.
Im Wesentlichen jedenfalls identifiziert der Soziologe sechs «spätmoderne Verlustschübe»: Da sind etwa die «Verlierer des liberalen Postindustrialismus», darunter – klar – die klassische Industriearbeiterschaft. Oder auch der demografische Trend: Die Gesellschaften werden immer älter, mithin vulnerabler, also verlustanfälliger. Oder eben besagte neue «Kultur der Selbstentfaltung», die um ein Subjekt kreist, das sensibler und offener ist, aber eben auch verwundbarer.
Am Ende steht die Erkenntnis, dass das Projekt der Moderne in einer existenziellen Krise steckt – was man natürlich auch schon vorher wusste. Abschliessend skizziert Reckwitz drei Zukunftsszenarien. Möglich sei erstens, dass der Modernisierungsmotor gegenwärtig zwar stottert, sich das aber auch von alleine wieder regelt: «Die Moderne könnte sogar eine Renaissance erleben und neue revolutionäre Kraft entfalten.» Es sei aber auch ein Zusammenbruch nicht auszuschliessen: Vom Atomkrieg bis zu einer weiteren Pandemie ist vieles denkbar – immerhin ist es ja auch ein Zeichen der Zeit, dass sich mit der «Kollapsologie» bereits eine entsprechende Forschungsrichtung etabliert hat.
Die Resilienz stärken
Das dritte Szenario wiederum ist das von Reckwitz bevorzugte: Er plädiert für eine «Reparatur der Moderne». Dies würde bedeuten, sich vom naiven Glauben an ein «immer mehr» und «immer besser» zu lösen und selbstreflexiv ein Bewusstsein für die Verluste zu entwickeln, die die Dynamik der Moderne immer auch hervorbringt. Das könnte die «Resilienz» heutiger Gesellschaften stärken.
Dass Reckwitz damit ein aus psychologischem Kontext stammendes Konzept «als Programm für gesellschaftliche und politische Steuerung» fruchtbar machen will, deutet darauf hin, dass seine Analyse primär technisch oder therapeutisch auf die Gesellschaft blickt. Wenn aber soziale Bewegungen gerne mal auch rabiat von der Strasse geschafft werden, dann vermutlich nicht bloss, weil ein konzeptueller Dissens darüber herrscht, wie man denn nun Gesellschaft optimal managt. Überhaupt: Wenn allerorten Verluste zu verzeichnen sind, was ist dann eigentlich mit denen, die – ganz gegen den Trend – mehr Reichtümer anhäufen denn je?
Das autoritäre Abdriften Ultravermögender wie Elon Musk zeigt, dass aufseiten der Eliten mitunter wenig Interesse daran besteht, die Moderne einem behutsamen Reparaturverfahren zu unterziehen. Eine Soziologie, die Alternativen klar benennt und sich selbst ins Handgemenge wirft, wäre umso notwendiger. Reckwitz empfiehlt derweil in Interviews dem möglichen kommenden Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) mehr Mut zur Ehrlichkeit: Die Verluste der Gegenwart liessen sich «nicht mehr einfach wegreden».* Der ehemalige Aufsichtsrat des Vermögensverwalters Blackrock wird es zur Kenntnis nehmen.
* Korrigenda vom 9. Januar 2025: In der früheren Version dieses Textes waren Interviewaussagen von Andreas Reckwitz nicht korrekt wiedergegeben. Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert und bitten Sie, diesen Fehler zu entschuldigen.