Irrsinn im Spätkapitalismus: Wer verteidigt hier welche Werte?
Das Attentat in Paris enthüllt die unterschiedlichsten Formen falscher Welterklärungsideologien. Niemand zwingt uns, diesen zu folgen.
Wir leben in durchgeknallten Zeiten. Wenn diese These noch einer Bestätigung bedurfte, dann wurde sie nun erbracht: Religiöse Fundamentalisten beantworten die US-Invasion in den Irak und andere Demütigungen der muslimischen Welt, indem sie eine Satirezeitung in Paris attackieren. Doch auch auf der Gegenseite hat man Sinn für Humor: Die FührerInnen der freien Welt, bekanntermassen glühende VerteidigerInnen der Freiheitsrechte (solange diese nicht in Widerspruch zu Weltmarkt und Grenzregime stehen), formieren sich in Paris zum ersten Schwarzen Block der Herrschenden. Mit Trauerflor und schwarzem Anzug haken sich die Globaleliten zu Ketten unter, als wären sie die Spitze einer gewaltigen Demonstration. Aufnahmen aus der Höhe zeigen die PolitikerInnen allerdings auf menschenleeren, abgeriegelten Strassen, umzingelt von Bodyguards.
Irgendwie lustig auch: Die Medien, die diese Falschmeldungen willig verbreiten, dürfen nicht mehr als Drecksblätter bezeichnet werden, weil Medienkritik zum Steckenpferd rassistischer Fundamentalirrer geworden zu sein scheint. Man hat den Eindruck, als sei die ganze Welt nur noch eine einzige Satireaktion: Journalisten, die noch in jeden Arsch gekrochen sind, in den zu kriechen sich lohnte, erdichten sich als Freiheitskämpfer. Wie die Religiösen und die Pegidas ermöglicht auch ihnen das neue Szenario unverhofften Sinngewinn. Nach Paris erstrahlt selbst das widerliche Geschreibe für Ringier, Springer oder Bertelsmann in neuem Glanz: Wenn die Meinungsfreiheit unter Beschuss ist, steht dann nicht jedes religionskritische Blabla in aufklärerischer Tradition?
Die Vernunft der Idiotie
Doch was könnte man angesichts dieser Kakofonie, mit der die Irren verschiedenster Couleur dem Sinnverlust im Spätkapitalismus (wie Slavoj Zizek es sagen würde) zu entfliehen versuchen, Richtiges sagen? Man könnte etwa festhalten, dass es egal ist, ob die Witze von «Charlie Hebdo» gut oder schlecht, ausgewogen laizistisch oder islamophob waren. Auch schlechte Satiriker sollten nicht hingerichtet werden – schon gar nicht von religiösen Witzfiguren.
Man könnte zweitens darauf hinweisen, dass das Gerede von den «westlichen Werten» nicht dadurch richtiger wird, dass man es pausenlos wiederholt. Die Geschichte des Westens bleibt auch nach Paris eine Geschichte von Massenmord und kolonialer Ausplünderung: eine widerliche Verbindung von ökonomischer Rationalität und religiösem Mythos, wie sich bei den Aufklärern Max Horkheimer und Theodor Adorno nachlesen liesse – würde man lesen. Kritik und Aufklärung haben kein geografisches Zuhause – sosehr sich dies das weisse Europa auch einzureden versucht.
Islamofaschismus?
Drittens schliesslich wäre es hilfreich, sich – anstatt in den Betroffenheitschor einzustimmen – zu überlegen, um was für eine Bewegung es sich beim islamischen Fundamentalismus eigentlich handelt. In Ermangelung einer klaren Definition wird der Begriff des Islamofaschismus auch unter Linken immer populärer. Das scheint auf der einen Seite ganz plausibel: Hinsichtlich Todeskult und Totalitätsanspruch trägt er faschistoide Züge. Und trotzdem ist der Begriff des Islamofaschismus Quark. Hannah Arendt hat Faschismus als Pakt von Mob und Eliten beschrieben, der die Gesellschaft mit Totalitätsanspruch durchdringt. Bis hierhin könnte man das vielleicht auch für manche islamistische Bewegung noch behaupten: Dass die prowestlichen Golfdespotien, allen voran der saudische Öladel, militant-salafistische Gruppen finanzieren, wird mittlerweile auch von den Nato-Staaten halbherzig kritisiert.
Doch Hannah Arendt hat den Faschismus auch mit zwei spezifischen Erscheinungen der bürgerlichen Moderne erklärt: Rassismus und Imperialismus. Er sei eine verspätete Wiederholung kolonialer Eroberungszüge, die wegen der Begrenztheit des geografischen Raums besonders aggressiv daherkomme. Das faschistische Projekt ist bei Arendt deshalb Ausdruck von kapitalistischer Krise und Imperialismus. Und zumindest hier teilt der islamische Fundamentalismus mit dem Faschismus weniger als der bürgerliche Liberalismus, den in diesen Tagen auch viele Linke so begeistert verteidigen. Der Fundamentalismus ist eben gerade kein ökonomisches Eroberungsprojekt, sondern eher eine irre Antwort auf dieses.
In durchgeknallten Zeiten scheint man nur noch die Wahl zwischen unterschiedlichen Formen des Schwachsinns zu haben. Aber vielleicht ist auch diese Wahrnehmung nur Teil der allgemeinen Hysterie. Niemand zwingt uns, in die falschen Welterklärungsideologien – religiös, rassistisch, bürgerlich-imperial-liberal – mit einzustimmen. Wenn es so etwas wie eine Linie der Aufklärung gibt, dann die der linken Kritik sowohl von Religion als auch von kapitalistischer Herrschaft.