Religiöser Fundamentalismus: Für einen liberalen Laizismus

Nr. 52 –

Illustration: Franziska Meyer

Es ist eigenartig. Während man sich in der Schweiz regelmässig über ein paar Burkas und bärtige Salafisten echauffiert, geht etwas beinahe unter: Auch im Christentum gibt es fundamentalistische Strömungen, die stark im Aufwind sind. In der Schweiz ist die Zahl der Evangelikalen seit 1970 von 37 000 auf über 200 000 gestiegen. Weltweit sind es mehrere hundert Millionen. Auch sie sind konservativ, meist gegen Sex vor der Ehe oder gegen Homosexualität. Ein Zehntel der Evangelikalen in der Schweiz ist überzeugt, die Frau gehöre ins Haus.

Evangelikale und SalafistInnen unterscheiden sich vor allem darin, dass Letztere stärker zur Gewalt neigen. Das war nicht immer so. Der von Saudi-Arabien geprägte Salafismus propagierte einst lediglich die Einhaltung eines streng religiösen Lebens. Der Dschihadismus kommt, entgegen gängigen Behauptungen, nicht aus Saudi-Arabien. Er geht auf den Islamismus zurück, den die ägyptischen Muslimbrüder 1928 begründeten – eine Art Pendant zum damaligen Rechtsnationalismus in Europa. Ab den siebziger Jahren griffen Islamisten, die gegen die Staatsmacht im eigenen Land kämpften, immer mehr zur Gewalt; Ende der neunziger Jahre drehte al-Kaida den Dschihad schliesslich gegen den Westen. Erst damals wurde ein Teil der SalafistInnen gewalttätig, als sie unter al-Kaida mit dem politischen Islam fusionierten.

Im Kern verkörpert der Evangelikalismus, der vor allem in den USA ebenfalls mit der Rechten paktiert, dasselbe Phänomen wie der Salafismus. Beide sind Reaktionen auf eine immer säkularere Welt, in der statt der Religion die Ökonomie regiert. Dieser Welt stellt der Fundamentalismus strenge Normen entgegen, was erlaubt ist und was nicht. Diese Normen besitzen kaum ein theologisches Fundament. Als 2014 zwei britische Dschihadisten verhaftet wurden, kam heraus, dass sie das Handbuch «Islam for Dummies» gelesen hatten. Der Fundamentalismus geht nicht durch den Kopf, er geht durch das Herz – bei den Evangelikalen in Massengottesdiensten und Rockkonzerten.

Die politische Rechte reagiert auf den Salafismus, indem sie – teilweise zusammen mit Evangelikalen – zur Verteidigung des Christentums bläst. Sekundiert wird sie von selbst ernannten VerteidigerInnen der Aufklärung, die einen totalitären Laizismus propagieren. Hier finden sich Leute wie Ringier-Kolumnist Frank A. Meyer mit dem rechtsnationalen Front National wieder. Sie wollen die Religion nicht nur dem Staat austreiben, sondern ebenso den Menschen.

Dieser Laizismus ist das Spiegelbild des totalitären Christentums, dem er sich in der Französischen Revolution entgegenstellte. Meyer wirft der Linken vor, über die Unterdrückung der Frau im Islam hinwegzusehen. Damit kappe sie «die Wurzeln, die sie mit der Aufklärung verbanden».

Jenseits eines totalitären Laizismus und der Tolerierung der Unterdrückung von Frauen existiert jedoch eine dritte politische Haltung: der liberal verstandene Laizismus, wie ihn der Brite John Locke einst formulierte. Es gibt einen Gesellschaftsvertrag, an den sich alle BürgerInnen zu halten haben. Er definiert, wo die Freiheit der einen aufhört und jene der anderen anfängt. Innerhalb gewisser Freiräume sind jedoch alle frei, ihre Religion zu leben.

Die Aufgabe der BürgerInnen ist es nicht, die Religion anderer zu kritisieren, sondern die Freiräume zu definieren. Die Religion entsprechend zu reformieren, ist Sache der Gläubigen. Es wäre falsch, einer Muslimin das Tragen eines Gesichtsschleiers zu verbieten, sie schränkt damit niemand anderes in dessen Freiheit ein. Es wäre auch falsch, ihr dies in der Annahme zu verbieten, sie werde dazu gezwungen. So wie es falsch wäre, einer Christin zu verbieten, im Haus zu bleiben. Gut möglich, dass sie das so wollen.

Gut möglich, dass sie dazu gezwungen werden. Der Staat sollte sich jedoch darauf beschränken, ihnen die nötigen Rechte und wirtschaftlichen Mittel in die Hand zu geben, um sich aus ihrer Lage zu befreien. Der (Irr-)Glaube der Aufklärung, die Menschen hätten ein falsches Bewusstsein und müssten davon durch Zwang befreit werden, hat zum letzten Mal in der Sowjetunion in den Totalitarismus geführt.