Das Guth-Gafa-Festival: Kein roter Teppich auf der grünen Insel
Bei aller Liebe zu den Solothurner Filmtagen: Das sympathischste Filmfest der Welt findet am nordwestlichen Zipfel Europas statt. Es heisst Guth Gafa und ist das Herzensprojekt von David Rane und Neasa Ní Chianáin.
Eine Steintafel mit dem eingravierten Schriftzug «Headfort House» ziert die Säule des moosüberwachsenen Eingangstors. Die Ankündigung einer versunkenen Welt, ein Hauch von Downton Abbey, der mögliche Drehort eines Films über englische Lords oder unerbittliche irische Nonnen. Wir fahren durch ein dunkles Wäldchen, die Bremsen von Roisín Geraghtys Auto geben ein kratzendes Geräusch von sich. «Das Erste, was ich am Montag machen werde», sagt die junge Irin mit beeindruckend grünen Augen und makellos bleichem Teint: «das Auto endlich in die Garage bringen.»
Roisín ist dieses Jahr Mitglied des Festivalteams von Guth Gafa, nachdem sie in früheren Jahren als Freiwillige mitgeholfen hat. Jetzt ist sie hier «festival coordinator»; dazu gehört auch, dass sie mit ihrem Privatauto Gäste vom Flughafen in Dublin abholt und zum rund siebzig Kilometer entfernten, im mittleren Osten Irlands gelegenen Städtchen Kells transportiert. Die Fahrt macht sie an diesem Tag zweimal; vor uns hat sie morgens Gäste aus den USA abgeholt, jetzt sind der belgische Filmproduzent Maarten Schmidt und der Schweizer Filmemacher Matthias von Gunten («ThuleTuvalu»), den ich zum Festival begleite, an Bord.
Käse statt Cüpli
Der erste Blick auf das Festivalgelände: ein weiter Rasenteppich, der sich plötzlich vor uns auftut. Ein sattes Irlandgrün ebbt heran – eine für alle Irlandreisenden unvergessliche Farbe, kaum beschreibbar, nur aus dem Gedächtnis abrufbar. Der kräftige Wind reisst die Wolkendecke auf, vereinzelte Sonnenstrahlen fallen auf ein Rugbytor, einen Reitübungsplatz. Gegenüber dieser himmelhohen Weite das Headfort House als dunkler Akzent. Ein Kalksteinbau, etwas heruntergekommen und erst auf den zweiten Blick als Juwel erkennbar. Hier, in diesem denkmalgeschützten Bau aus dem 18. Jahrhundert, findet ein einzigartiges Filmfestival statt. Statt Glamour, Cüpli und rotem Teppich gibt es irisches Bier und Käse, beides direkt von den Bauernhöfen aus der Gegend geliefert, Jutematten auf dem Vorplatz, damit die Besucher nicht in der vom Dauerregen durchnässten Wiese versinken – und ein denkbar uneitles Festivaldirektorenpaar.
Neasa Ní Chianáin und ihr englischer Ehemann David Rane sind gerade mit letzten Vorbereitungen beschäftigt: Er redet mit einem Techniker, sie telefoniert, während ihre zwei Kinder auf dem Festivalgelände herumrennen. David wird später die ersten Filme ansagen; das Hemd schaut ihm unter dem Pullover hervor, und er hat noch immer keine Zeit gehabt, sich zu rasieren, aber das stört hier niemanden.
David und Neasa zelebrieren hier keine Prominenz, sondern haben sich mit Haut und Haar ihrem idealistischen Projekt verschrieben, Dokumentarfilme mit unbequemen Themen einer ländlichen Bevölkerung zu zeigen. Er ist Filmproduzent, sie Filmautorin, zusammen leiten sie die Produktionsfirma Soilsiú (irisch für Beleuchtung). Das Guth-Gafa-Festival haben sie 2007 gegründet, fernab von Dublin und seinen hauptstädtischen Befindlichkeiten. Ihr Motto lautet: «to bring films that matter to people who matter». Und «wichtige Leute», das sind für David und Neasa weder die VertreterInnen der Filmindustrie noch die Politprominenz, sondern zuallererst die ausserhalb urbaner Zentren lebende Bevölkerung. Der Name Guth Gafa (fesselnde, faszinierende Stimme) ist Programm: Denen, die kaum gehört werden, soll mit Filmen eine Stimme gegeben werden. David und Neasa greifen damit eine irische Tradition auf: Seit Jahrzehnten werden hier überall Musik- und Gesangsfestivals abgehalten, von und mit Bäuerinnen und anderen Landbewohnern.
An diese Tradition knüpft Guth Gafa auch insofern an, als die dezentralen Austragungsorte wechseln können. Von Gortahork am nordwestlichen Zipfel des Landes ist das Festival nach Malin gezogen, Londonderry war auch schon Satellit, und im letzten Herbst fand das Festival erstmals in Kells statt. Hier im County Meath soll es auch weiter zu Hause sein – falls die dafür notwendigen Gelder gesprochen werden. Denn die dramatische Rezession hat Guth Gafa hart getroffen, die Gelder des Arts Council und des Irish Film Board wurden gekürzt. Schon 2009 waren nur noch sechzig Prozent des damaligen Vorjahresbudgets vorhanden.
Die Filmwelt am Cheminée
Nicht nur deswegen konzentrieren sich David Rane und Neasa Ní Chianáin auf das Wesentliche – und das ist aus ihrer Sicht ein künstlerisch hochstehendes, internationales Programm mit Dokumentarfilmen und Gästen, die für Workshops und Gespräche mit Publikum und KollegInnen eingeladen werden. Es gibt keinen Wettbewerb, keine Preise, keine Klassifizierungen – die einzige Auszeichnung ist: ausgewählt zu werden. Keine VIP-Lounges, kein ausgeklügeltes Ticketing, keine geschlossenen Anlässe – alle werden gleich behandelt. Überall stehen die Türen offen, die freiwilligen HelferInnen setzen sich mit Herzblut ein, und Filmleute, die sich eben erst kennengelernt haben, sitzen in der einfach eingerichteten Café-Bar rund ums Cheminée zusammen. Gespräche zwischen ihnen und dem Publikum entstehen überall, auch in der kurzen Warteschlange beim Barista, der seinen mobilen Stand rund um einen Mini-Toyota herum aufgestellt hat und mit einer Kolbenmaschine jeden Kaffee einzeln sorgfältig anrichtet, immer in guter Laune, auch wenn es Bindfäden regnet – was nicht selten der Fall ist.
Aus der Schweiz waren in den letzten Jahren schon Peter Liechti, Fernand Melgar oder Markus Imhoof mit ihren neusten Werken hier zu Gast. Die ausgewählten Filme behandeln unterschiedliche, aber meist politische Themen: Menschenrechte, Migration, Ernährung, Kriegsgeschäfte, Klimaveränderung, Umgang mit Natur und Tieren. Neben Investigativrecherchen zu ernsten Themen haben aber auch leichtere, humorvolle Beiträge ihren Platz. Was man vergebens sucht, sind gefällige Filme zu belanglosen Themen.
Die Vorführungen in Kells finden im Theaterraum und im Ballroom des Headfort House statt, aber auch in einem Cinemobile. Der vom bekannten schottischen Architekten Robert Adam gestaltete Ballroom ist das Prunkstück in dem Gebäude, das sich einst englische Steuereinzieher im Dienst von Oliver Cromwell erbauen liessen; seit 1949 ist hier die letzte Boarding School eingemietet, wo Kinder nach dem Montessori-Prinzip unterrichtet werden. Das Cinemobile ist ein bestens ausgestatteter Kinoraum mit Fahruntersatz – ein Lastwagen, dessen Containerflügel nach aussen geklappt werden können, sodass über hundert Besucher bequem darin Platz finden.
Die Direktorin in der Markthalle
Neasa, mit Jeans und robusten Schuhen ausgerüstet, lädt uns am Samstag ein, mit ihr eine lokale Markthalle zu besuchen. Im Auto erzählt sie uns von der grossen Empörung der hier ansässigen BäuerInnen über eine drohende Wassersteuer: «Viele wissen nicht, wie sie das auch noch bezahlen sollen», meint sie, während wir an manchen renovationsbedürftigen Häusern vorbeifahren. In der kleinen Markthalle wird frischer Käse, Fleisch, Konfitüre und das kuchenähnliche, reichhaltige irische Brot verkauft. Neasa geht von Stand zu Stand, gibt Bestellungen auf und wirbt noch einmal für ihr Festival. Wohl nicht zuletzt wegen solcher Engagements, aber vor allem wegen ihrer pointierten Filme wurde Neasa 2011 von der Zeitschrift «Image» zu einer der «100 Most Inspiring Irish Women» ernannt, neben der früheren Staatspräsidentin Mary Robinson oder der Schriftstellerin Cecelia Ahern. Neasas Dokumentarfilm «Fairytale of Kathmandu» (2007), in dem sie den von ihr verehrten, in Nepal lebenden irischen Dichter Cathal O’Searcaigh zu ihrer eigenen Überraschung als pädophilen Ausbeuter entlarven musste, erschütterte ganz Irland.
«Wir machen das Festival für sie, die Menschen hier», sagt Neasa auf dem Rückweg zum Festivalgelände. «Und viele von ihnen haben mir gesagt, dass sie kommen werden.» Dann erzählt sie uns von den Irritationen, die Peter Liechtis «The Sound of Insects» an ihrem Festival ausgelöst habe, weil den Leuten hier die politischen Hungerstreiks noch in starker Erinnerung waren. Einige im Publikum konnten nicht verstehen, warum sich jemand scheinbar grundlos, ohne äusseren Druck, zu Tode hungern sollte. Am Guth Gafa sind Filmkunst und Realität nah beisammen. Das spürt man auch, als Sinéad O’Brien «Blood Fruit» zeigt, ihren Dokumentarfilm über die irischen Verkäuferinnen, die 1984 gegen das Apartheidregime in Südafrika protestierten. Im Publikum sitzt auch eine der Beteiligten von damals, die sich im Supermarkt weigerten, Früchte aus Südafrika zu verkaufen.
Auch während unseres Besuchs beim Guth Gafa gibt es Proteste in ganz Irland: Hunderttausende wehren sich gegen die drohende Einführung einer Wassersteuer – eine Sparmassnahme, zu der sich die Regierung aufgrund der beklagenswerten Finanzlage gezwungen sieht. Auf einem Plakat ist zu lesen: «Steckt euch eure Wasserzähler in den Allerwertesten.»
Direkt und unverblümt können IrInnen sein. Stark und eigenwillig. Wie Guth Gafa. Wir müssen wiederkommen, die «Stimme» hat uns gefangen.
Von Schafen und Filmen
Der Walliser Filmemacher Nicolas Steiner war mit «Kampf der Königinnen» (2011) ans Guth-Gafa-Festival geladen, als dieses in Gortahork im Nordwesten Irlands stattfand. Er erinnert sich:
«Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet. Schon die Hinreise war speziell: In Dublin wurden wir von einer kleinen Propellermaschine abgeholt, die uns nach Donegal brachte. Du lernst also erst den Piloten kennen und plauderst mit ihm über das Festival. Wir waren dann vielleicht zehn Leute, die zusammen im Flieger sassen, und bei der Landung wartete ein gewöhnlicher Traktor, der unser Gepäck wegbrachte. Danach folgte noch eine längere Busfahrt bis nach Gortahork, und da war wirklich gar nichts: ein paar Schafe, ein paar Leute, die dort wohnen, sonst war da nichts los. Dafür diese atemberaubende irische Landschaft.
Das Festival hatte nur etwa zehn bis fünfzehn Filme im Programm. Und sie zeigen deinen Film auch nur, wenn du als Regisseur dabei sein kannst, das ist quasi Bedingung. Die Vorführungen fanden in einer Kirche und im Theatersaal des Hotels statt, draussen gabs noch ein Zelt. Du sitzt also mit etwa zwanzig Leuten zusammen im Saal, die Regisseure der anderen Filme und ein paar Einheimische, und bald kennst du jeden Zuschauer persönlich. Es kam mir ein wenig vor wie das Open Air Gampel vor 25 Jahren. Alles extrem entspannt, richtig gemütlich, aber es hat natürlich nichts damit zu tun, was man sich erst mal unter einem Filmfestival vorstellt: Keine Konkurrenz, kein Wettbewerb, kein roter Teppich, keine Stars. Es ging nur um die Quintessenz: die Filme.»
Aufgezeichnet von Florian Keller.
Nicolas Steiner (30) studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg, sein Abschlussfilm «Above and Below» feiert dieser Tage Weltpremiere am Filmfestival in Rotterdam.