Syrische Flüchtlinge: Kontinent der Kaltherzigkeit

Nr. 5 –

Am Weltwirtschaftsforum in Davos – ja, das gibt es noch – hat die «NZZ am Sonntag» ­einen «humanitären Akt von ganz Europa» ausfindig gemacht. Offenbar hat der deutsche Innenminister Thomas de Maizière laut über ein «Kontingent für syrische Flüchtlinge» nachgedacht. Konkret geht es um ein Pilotprojekt der EU-Kommission, das die Aufnahme von 10 000 Flüchtlingen aus Syrien prüft. Die Schweiz könnte als Schengen-Mitglied das Projekt mittragen, das der «Blick» daraufhin als «Mega-Flüchtlingsprojekt der EU» vorstellte.

Das angekündigte Vorhaben ist in Tat und Wahrheit obszön und beschämend. In den unmittelbaren Nachbarländern Syriens – in Jordanien, der Türkei und im Libanon – leben mehr als drei Millionen Flüchtlinge. Und noch vor etwas mehr als einem Jahrzehnt war Europa bereit, mehrere Hunderttausend Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufzunehmen. So waren in der Schweiz im Jahr 1999 – auf dem Höhepunkt des Kosovokriegs – 105 000 Asylverfahren hängig, und die Anzahl der Gesuche lag bei 47 500. Heute beschränken sich Gesuche und hängige Verfahren auf je etwa die Hälfte.

Die Aufnahme der Flüchtlinge war damals möglich, weil der politische und gesellschaftliche Wille vorhanden war und weil die benötigte Infrastruktur zur Verfügung stand, eine Infrastruktur, die der ehemalige Justizminister Christoph Blocher während seiner Amtszeit bewusst abgebaut hat – um heute genau aus dem Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten politisches Kapital zu schlagen.

Das EU-Projekt samt Schweizer Beteiligung und seine mediale Wahrnehmung sind Ausdruck der Kaltherzigkeit dieses Kontinents und dieses Landes, das sich bei jeder Gelegenheit seiner humanitären Tradition rühmt. Doch was zählt, ist die Gegenwart. Und diese hält es für eine Utopie, einen Frevel gar, wenn der grüne Nationalrat Balthasar Glättli vorschlägt, dass die Schweiz 100 000 syrische Flüchtlinge aufnehmen soll. Dabei wäre das ein bescheidener Anfang.

Einen Fortschritt bringt das EU-Projekt doch: Erstmals steht die Idee eines ­«europäischen Asyls» im Raum, einer gesamteuropäischen Verteilung der Flüchtlinge, die die südeuropäischen Staaten endlich entlasten würde.