«29 gelbe Geschichten»: Das Wort haben die PöstlerInnen

Nr. 6 –

Die Briefträgerin Katrin Bärtschi hat 29 ArbeitskollegInnen porträtiert. Entstanden ist ein Buch, das Einblicke in einen Berufsalltag gewährt, der sich seit der Teilprivatisierung der Post stark verändert hat.

Eine Briefträgerin, die in ihrer Freizeit BriefträgerInnen porträtiert: Allein das ist aussergewöhnlich. Zumal es auch das Misstrauen von Vorgesetzten und der Medienstelle der Post zu überwinden galt. Während zweier Jahre hat die 54-jährige Briefträgerin Katrin Bärtschi, genannt «Katle», ArbeitskollegInnen getroffen und aus den Gesprächen ein Buch mit Porträts zusammengestellt – gewidmet denen, «die Briefe schreiben. Und denen, die sie annehmen, sortieren und vertragen». Ihre ArbeitskollegInnen nennt Katle – wie sich selbst – beim Rufnamen.

Es hat sich gelohnt: Die «29 gelben Geschichten» vermitteln auch Nichteingeweihten eine Vorstellung davon, wie sehr sich der Beruf verändert hat, seit die PTT im Jahr 1998 zerschlagen und in Swisscom und Post aufgespalten wurde. Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, ruft im Vorwort die neunziger Jahre in Erinnerung, als es noch «drei Dreibuchstaben-Wörter» gab, die für etwas standen, «was die Schweiz im Guten ausmacht»: die AHV, die SBB – und die PTT.

Vom Briefträger zum Logistiker

«Wer steckt in den grau-gelben Uniformen, die liberalisiert nun Arbeitsfelder heissen? Wen verbergen die gelben Helme bei voller Fahrt? Ich wollte es gerne herausfinden», schreibt Katle in der Einführung. Bärtschi lässt ihre KollegInnen in Ich-Form sprechen. Zum Beispiel Mänu (47), der erzählt, wie er als «Briefträger» die Lehre abschloss, später «Zustellbeamter» hiess und heute laut offizieller Sprachregelung den Beruf eines «Logistikers» ausübt. Und sich angesichts des zunehmenden Zeitdrucks fragt: «Was ist wichtiger: gesunde Mitarbeitende oder diese zehn Minuten?»

Mit der Automatisierung der Briefsortierung hat das physische Verhältnis zum Brief an Bedeutung verloren: «Viele für mein Empfinden erlebnisreiche Handgriffe», so der 35-jährige Simu, «sind verloren gegangen. Früher habe ich mich bereits beim Stecken mit meiner Tour und den dort wohnenden Menschen auseinandergesetzt. Jetzt lautet die Devise: Den Brief einmal berühren und tack – einwerfen!» Noch prägnanter formuliert es der fünfzigjährige Ruedi: «Was wir heute machen, ist nur noch Massenabfertigung.» Auch auf die teaminternen Beziehungen hat sich der zunehmende Zeitdruck ausgewirkt: «Früher», erinnert sich der 44-jährige Res, «wenn wir wenig Post zu verteilen hatten, klopften wir manchmal einen Jass, bevor wir auf die Tour gingen. Wir waren ein wenig wie eine Familie.»

Der Briefträgerberuf hat über all die Jahre viel von seiner ursprünglichen Vielfältigkeit verloren. Gelitten hat dabei vor allem auch seine gesellschaftliche Funktion. Die Zeiten, als BriefträgerInnen jahrzehntelang für das gleiche Quartier zuständig und für viele Bewohnerinnen vertraute Bezugspersonen waren, sind vorbei. «Früher, wenn wir die AHV brachten», so Mänu, «gab es eine Tasse Kaffee. Heute haben wir kaum Zeit für ein Schwätzchen. Der Scanner überwacht unserer Arbeit, es ist keine Minute geschenkt.» Auch wie sehr der Beruf – der bis in die neunziger Jahre noch Beamtenstatus hatte – an Ansehen verloren hat, kommt zum Ausdruck: «Ich würde mich in einer Feierabendbierrunde in der Pöstleruniform nicht wohl fühlen», sagt der zwanzigjährige Mike.

Der Himmel über Ostermundigen

Und doch gibt es noch immer PöstlerInnen, die ihren Beruf als gesellschaftliche Arbeit verstehen. Zum Beispiel Simu, der davon erzählt, wie eine der wenigen alten Frauen, die ihre AHV heutzutage noch per Hauszustellung erhalten, ihm einen Fünfliber gab – «von dem Wenigen, das sie hat, hat sie noch mir gegeben.» Im Buch kommen aber auch Menschen zu Wort, die dem Stellenabbau zum Opfer gefallen sind: Die 47-jährige Eveline zum Beispiel trägt heute – neben weiteren Teilzeitjobs – bei einer Tochtergesellschaft der Post Zeitungen aus. Ein Ende des Stellenabbaus ist nicht absehbar: Laut Postchefin Susanne Ruoff sollen Tausende der Stellen, die in den nächsten Jahren durch Pensionierungen frei werden, nicht mehr besetzt werden.

Trotz all dem ist aus einigen Stimmen noch immer Berufsstolz zu hören. So etwa erzählt die neunzehnjährige Lehrtochter Sandra, wie sehr sie es als Kind faszinierte, wenn ihre Mutter, eine Briefträgerin, jeweils die Briefe durchsah – sodass sie selbst Briefträgerin werden wollte. Auch, dass sich der technische Fortschritt nicht zwingend negativ auf den Arbeitsalltag auswirken muss, kommt zur Sprache – etwa wenn der achtzehnjährige Lehrling Flo vom DXP-Elektrofahrzeug schwärmt: «Ein sehr nützliches Fahrzeug und reizvoll, weil er voll elektrisch betrieben wird und nicht laut und lärmig ist, wie die Benziner es waren. Wir fahren auf drei Rädern, sitzen in einem Sessel, das passt mir.»

Auch Bärtschi weiss ihren Beruf immer noch zu schätzen: «Der Himmel über Ostermundigen wie Rosen, Orangen und Aprikosen. Das Laub der Ahornbäume in der Allee leuchtet in hellem Gelb. Über Bern dann senkrecht vor nassem Grau ein Stück strahlender Regenbogen. – Ein solcher Morgen ist einer der guten Gründe, immer noch Briefträgerin zu sein», schreibt sie. Und hofft, dass die Porträts «der gut geölten, gewinnorientierten Gelben Maschine etwas entgegenhalten» können.

Katrin Bärtschi: Wir sind selbstständig. Und für etwas zuständig. 29 gelbe Geschichten. Eigenverlag. Bern 2014. 25 Franken (plus Porto). Bestellbar bei: katrin.baertschi@bluewin.ch