Ukraine: Wenn das Wasser steigt

Nr. 7 –

Dem Osten der Ukraine droht eine Umweltkatastrophe. Giftige Chemikalien können nicht mehr sicher gelagert werden, die radioaktive Verseuchung eines Bergwerks könnte gar ausser Kontrolle geraten.

Eine seltsame Epidemie hat die Bevölkerung der 250 000 EinwohnerInnen zählenden Industriestadt Gorlowka erfasst, die von den Aufständischen der «Volksrepublik Donezk» kontrolliert wird. Die Betroffenen klagen über Übelkeit, Magen-Darm-Verstimmungen, leichtes Fieber, Schwächezustände und Appetitlosigkeit. Über hundert Personen haben sich bereits in der örtlichen Klinik gemeldet.

Tatsächlich dürften aber weit mehr Menschen von dieser Erkrankung betroffen sein. «Kaum jemand hat in Gorlowka noch das Geld, um sich in einer Klinik behandeln zu lassen», sagt eine Bewohnerin am Telefon. Ukrainische Zeitungen erklären sich die Epidemie von Gorlowka mit den rauen Bedingungen der belagerten Stadt, in der es keinen Strom, keine Heizung, kaum Lebensmittel gibt und in der die Bevölkerung die meiste Zeit in feuchten Kellern verbringe. Doch der Grund könnte auch ein anderer sein. Gorlowka ist Sitz des Unternehmens Stirol, des grössten Herstellers von Mineraldünger in der Ukraine. Auf dem Firmengelände werden unter anderem die giftigen Stoffe Mononitrochlorbenzol (MNCB) und Ammoniak gelagert.

Knapp an Katastrophe vorbei

Das Geschäft von Stirol ist auch in normalen Zeiten eine gefährliche Angelegenheit: So verloren am 6. August 2013 sechs Werksangestellte ihr Leben, weil während Reparaturarbeiten Ammoniak ausgetreten war. Doch seitdem sich in der Gegend von Gorlowka die ukrainische Armee und separatistische Verbände bekriegen, ist das Stirol-Gelände zu einer Hochrisikozone geworden. So sei am 5. August 2014 das Werk von ukrainischen Truppen beschossen worden, wie Stirol-Pressesprecher Pawel Brykow berichtete. Gorlowka sei nur knapp einer Katastrophe entgangen. Wäre eines der Chemiedepots bei dem Artillerieangriff in die Luft geflogen, so Brykow in einem Youtube-Video, hätte das ein Gebiet im Umkreis von 300 Kilometern verseuchen können.

Inwieweit Stirol bereits jetzt eine ökologische Bedrohung für die Menschen in der Region ist, erfährt die Öffentlichkeit nicht. Die SeparatistInnen, die Gorlowka kontrollieren, vermitteln gerne den Eindruck, dass sie die Lage im Griff haben. Eine plötzlich ausbrechende Panik wegen einer Umweltkatastrophe wäre für sie kontraproduktiv.

Ökologie ist in Zeiten des Krieges ein Luxus, den sich in der Ukraine keine Seite leisten möchte. UmweltspezialistInnen haben derzeit keinen Zugang zu den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten. Doch könnten sie sowieso kaum etwas ausrichten. 2014 habe die ukrainische Regierung alle Mittel für ökologische Gutachten gestrichen, sagt Alexej Wasiljuk, stellvertretender Direktor des Nationalen Ökologischen Zentrums, gegenüber dem Internetportal glavpost.com.

Somit kann auch nicht gemessen werden, wie sich der starke Artilleriebeschuss der Gegend auf die Luftqualität auswirkt. Man geht davon aus, dass die Explosion von Artilleriemunition grosse Mengen von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Kohlenmonoxid freisetzt. Schwefeldioxid verursacht Halsschmerzen und ein Brennen in den Augen. Stickstoffdioxid kann zu einem Lungenödem führen. Gleichzeitig schwächt es die Abwehrkräfte des Körpers gegenüber verschiedenen Krankheitserregern.

Doch Umweltgefahren drohen nicht nur durch zerstörte Fabrikanlagen und explodierende Granaten. Ein besonderes Risiko stellen die Bergwerke dar, aus denen permanent Wasser abgepumpt werden muss und die deshalb von der Stromversorgung abhängen. Nach Angaben von Michael Wolynez, Chef der unabhängigen Gewerkschaft der Bergarbeiter, befindet sich die Hälfte der 150 ukrainischen Bergwerke auf von den Aufständischen kontrolliertem Gebiet.

Gefährlich seien insbesondere stillgelegte Bergwerke, waren diese doch in den letzten Jahren teilweise zur Lagerung von giftigem Sondermüll genutzt worden. Auch aus den meisten dieser Bergwerke müsste weiterhin Wasser abgepumpt werden, was derzeit nicht mehr überall sichergestellt werden könne. So steige beispielsweise im Bergwerksschacht Alexander-Sapad in Gorlowka das Grundwasser an. In diesen Schacht, so Michael Wolynez, seien 1989 durch einen Unfall fünfzig Tonnen MNCB gelangt. Zwei Arbeiter seien dabei umgekommen, 260 verletzt worden. Was passiere, wenn das Wasser eines Schachts an die Oberfläche gelangt, wisse niemand genau.

Die friedliche Atomexplosion

Noch prekärer scheint derzeit die Situation im Bergwerksschacht Junkom in der Stadt Jenakijewo im Gebiet Donezk zu sein. Dieser Schacht stelle eine grosse Bedrohung für die Umwelt des gesamten Donbass-Gebiets dar, so Wolynez.

Jenakijewo liegt gerade einmal fünfzig Kilometer von der umkämpften ostukrainischen Metropole Donezk entfernt und wird von den Aufständischen kontrolliert. Jenakijewo ist die Heimatstadt des früheren ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch.

Der 2002 stillgelegte Schacht ist immer wieder von ukrainischen Truppen beschossen worden, wie EinwohnerInnen aus Jenakijewo gegenüber der WOZ berichten.

Das Besondere an Junkom: Hier droht bei steigendem Grundwasser hoch radioaktives Material an die Oberfläche zu gelangen. Am 16. September 1979 wurde von der sowjetischen Armee in 800 Metern Tiefe eine atomare Explosion mit einer Sprengkraft von 300 Tonnen TNT ausgelöst. Zum Vergleich: Die Bombe von Hiroshima hatte eine Sprengkraft von 20 000 Tonnen TNT. Mit der Sprengung wollte man das Methanproblem in den Griff bekommen. Im Junkom-Schacht war immer wieder Methan in die Hohlräume eingedrungen und hatte zu tödlichen Explosionen geführt.

Nachdem sowjetische Wissenschaftler herausgefunden hatten, dass sich nach natürlichen Erdbeben im Osten der Sowjetunion in den Gesteinsschichten Risse gebildet hatten, durch die das Methan entweichen konnte, war man auf die glorreiche Idee gekommen, in Jenakijewo ein künstliches Erdbeben auszulösen. Das Projekt scheiterte kläglich. Das Methan liess sich durch die Atomexplosion nicht vertreiben. Stattdessen hatte man neue Probleme. So hat in der Umgebung die Zahl der Krebserkrankungen stark zugenommen, wie BewohnerInnen erzählen. Auch nach der Schliessung des Bergwerks sind MitarbeiterInnen damit beschäftigt, Messungen der Radioaktivität vorzunehmen und sicherzustellen, dass das Abpumpsystem funktioniert.

Es kann dauern

UmweltschützerInnen gehen inzwischen davon aus, dass sich in verschiedenen Bergwerken bereits vergiftetes Wasser befindet, das dringend herausgepumpt werden muss. Andernfalls sei die Trinkwasserversorgung im ganzen Donbass gefährdet.

Gegenüber der «Kyiv Post» hat Olha Molotska, Pressesprecherin des ukrainischen Umweltministeriums, erklärt, dass sich das Ministerium sofort nach dem Ende der Kampfhandlungen an eine Bestandsaufnahme der Umweltschäden machen werde. Gleichzeitig, so die Sprecherin, werde man einen Plan zur Beseitigung der Schäden erarbeiten. Doch die Kämpfe könnten noch lange dauern.