Medientagebuch: Die E-Mails von Abu Bakr

Nr. 8 –

Alfred Hackensberger über eine Cyberattacke gegen den Islamischen Staat

Es wirkt wie aus einem Thriller und klingt auch ganz gut. «Von nun an gibt es online keinen sicheren Platz mehr für euch!», heisst es im Video der internationalen Hacker-Community Anonymous, theatralisch mit einer Maschinenstimme vorgetragen und mit der bekannten Maske aus dem Comic «V für Vendetta»: «Wir werden euch wie einen Virus behandeln!» Und: «Wir vergessen und vergeben nicht! Erwartet uns!»

Diesmal ist der Gegner von Anonymous nicht eine bekannte Sekte, das Vorstandsmitglied einer Bank oder die US-Regierung. Man hat es auf die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) abgesehen, auf ihre Websites, E-Mails, Twitter- und Facebook-Konten. Davon hat Anonymous bisher bereits über 800 vom Netz genommen. Klasse Arbeit könnte man sagen. Aber wohl ein Tropfen auf den heissen Stein.

Auf Twitter allein werden vom IS und seinen SympathisantInnen täglich 40 000 Nachrichten veröffentlicht. Viele davon nutzen ein Programm, das der IS seit April 2014 verbreitet. Alle können sich diese App herunterladen, und mit ihr posten sich die Botschaften aus dem Medienbüro des IS wie von selbst auf den individuellen Twitter-Accounts. Wer sich die Mühe macht, im Netz nach IS-Inhalten zu suchen, wird staunen, wie leicht man Texte und Videos der Gruppe findet. Es sind nur wenige Klicks, und schon stösst man auf unzähligen Blogs, auf Seiten wie «Just paste it», Youtube, Facebook oder Twitter auf IS-Werbung für Enthauptungen oder für das Sklaventum. Die Betreiber der sozialen Netzwerke löschen regelmässig solche Konten, zwar meistens erst nach zahlreichen Beschwerden, manchmal aber auch automatisiert aufgrund von Algorithmen. Viele Konten bleiben unberührt, obwohl sie der al-Kaida, radikal-islamistischen Rebellengruppen aus Syrien oder gesuchten IS-Mitgliedern gehören. Der deutsche Exrapper Deso Dogg, heute Abu Talha al-Almani, steht auf der US-Terrorliste, kann sich jedoch auf Twitter ungehindert verbreiten. Dasselbe beim österreichischen Mohamed Mahmoud, dem Gründer der verbotenen Dschihadorganisation Millatu Ibrahim: Seit er letztes Jahr bei einem Gefangenenaustausch zwischen der Türkei und dem IS freikam, twittert er aus Syrien, was das Zeug hält.

Eine signifikante Einschränkung der IS-Propaganda wird Anonymous wohl nicht erreichen. Vielleicht knackt die Gruppe die Daten eines IS-Servers und erringt einen punktuellen Erfolg. Ansonsten hat die «Operation Ice Isis» symbolischen Wert: Endlich tut jemand etwas und weist diese mordenden Kerle zumindest digital in ihre Schranken. Manch einer mag sich dadurch etwas besser fühlen. Wie ausgeklügelt das IS-Medienwerk heute ist, erkennt man schon an der IS-Counterattack-Gruppe Cyber Kalifat, hinter der ein zwanzigjähriger Brite namens Junaid Hussain stecken soll. Hussain sass im Gefängnis, weil er Premierminister Tony Blair digital anzapfte. Seine IS-Computerfreaks sollen das Twitter-Konto des US-Zentralkommandos gehackt haben.

Anonymous wird sich also anstrengen müssen. Erstaunlicherweise konzentriert sich die Hackergruppe zurzeit aber nicht ausschliesslich auf den Internetkampf gegen den IS. Erst will sie noch ein paar pädophil-sadistische Netzwerke auffliegen lassen. Dabei soll es laut Anonymous um «Politiker gehen, denen vertraut wird, die aber Kinder foltern und ermorden». Moral oder nur Publizität? Ich würde mir natürlich einen Einblick in die E-Mails von IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi wünschen. Aber das wäre dann wieder wie in einem Film.

Alfred Hackensberger schreibt für die WOZ aus Marokko.