Medientagebuch: Syrien: Ein weisser Fleck

Nr. 41 –

Alfred Hackensberger über Informationsprobleme im syrischen Krieg

Nun bombardiert Russland, und für wenige Tage ist der syrische Bürgerkrieg wieder in die weltweite Öffentlichkeit gerückt. In den letzten Monaten hatte sich nichts Aussergewöhnliches getan, ausser den üblichen Schrecklichkeiten des Islamischen Staats (IS), denen nach wie vor das grösste Medieninteresse gilt. Die Bilder von den Fassbomben des Assad-Regimes dagegen haben längst ihre Attraktivität verloren, so zynisch das klingen mag. Bei den russischen Angriffen konzentrierte man sich medial auf die Frage: Wer wurde bombardiert – die sogenannten moderaten und von den USA trainierten Rebellen oder die Terroristen vom Islamischen Staat? Es dauerte, bis die Angaben des russischen Verteidigungsministeriums widerlegt waren, nur den IS angegriffen zu haben. Syrische Aktivisten hatten zwar sofort gemeldet, «normale Rebellen» seien die Zielscheibe. Aber erst, als die USA zum gleichen Ergebnis kamen, wurde es medial als Wahrheit kolportiert.

AktivistInnen und Regierungen sind nicht die Quellen, auf die sich JournalistInnen unter normalen Umständen verlassen. Doch im Fall von Syrien ist alles ganz anders. JournalistInnen haben dort keinen Zugang mehr, um sich unabhängig ein Bild zu machen. Die Türkei hat die Grenzen geschlossen. Und selbst mit offenen Übergängen wäre Syrien zu gefährlich. Die letzten drei Journalisten, die im Juli in Aleppo waren, wurden nach zwei Tagen entführt und sind verschwunden. Syrien ist zum weissen Fleck des Journalismus geworden. Die Bilder, die wir im Fernsehen sehen, und die Informationen in der Zeitung stammen von politischen Aktivisten, Helferinnen und ÄrztInnen. Es gibt Hunderte Medienbüros und lokale JournalistInnen, die Nachrichten auf Facebook und Twitter posten. Daraus machen sich die ausländischen Medien dann ihren Reim von der Realität. Zu einem Teil mögen sie zuverlässig sein, aber meist sind sie ideologisch verbrämt.

Nach Beginn der russischen Bombenangriffe sprach ich mit einem Mitarbeiter des lokalen Rettungsdiensts in der Stadt Dschisr al-Schugur. Statt einer Terrorkommandozentrale, wie der Kreml behauptete, seien eine Moschee und zivile Häuser zerstört worden, sagte der Helfer. Es habe einen Toten und sieben Verwundete gegeben. Von Rebellen sei keine Spur in dieser Gegend, und die Moschee sei auch kein Waffenlager gewesen. Ob das stimmt, kann man aus der Ferne und über Skype nicht beurteilen. Sagte dieser Mann, der Tag für Tag Menschen aus dem Bombenschutt buddelt, die Wahrheit? Würde er es zugeben, falls die Moschee und umliegende Gebäude, wie sonst so oft im syrischen Bürgerkrieg, tatsächlich eine Militärbasis waren? Damit würde er Munition für die russische Propaganda liefern.

Auf die Frage, welche Rebellengruppen Dschisr al-Schugur kontrollieren, antwortete er: «Freie Syrische Armee» (FSA). Es mag dort die FSA geben, aber es gibt eben auch nachweislich den Al-Kaida-Ableger der Al-Nusra-Front. Diesen Namen wollte der junge Mann jedoch nicht in den Mund nehmen; er nennt lieber die FSA, die als moderate Vertreterin unter den syrischen Rebellen gilt. Der Rettungshelfer hat zwar nicht aus zehn Opfern hundert gemacht, wie andere das schon taten. Aber er hat in seiner Beschreibung einen wichtigen Teil der Realität ausgelassen. Und, wenn man an die vielen Hundert anderen BerichterstatterInnen denkt, wird in der Summe aus der Mücke ein Elefant.

Ich glaube, wir wussten über Syrien noch nie so wenig wie heute. Und es scheint auch in naher Zukunft nicht besser zu werden.

Alfred Hackensberger schreibt für die WOZ aus Marokko.