Schweizer Film: Da habt ihrs, was macht ihr damit?
«Dora» oder die kulturellen Neurosen unserer Filmförderung: zum tollen neuen Film von Stina Werenfels.
Mit der pränatalen Diagnostik ist das ja so eine Sache. Sicher ist: In der Humangenetik ist sie weiter entwickelt als in der Filmförderung.
Wer jedenfalls «Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern» gesehen hat, den exzellenten neuen Film von Stina Werenfels, kann es nicht fassen, dass sich gleich zwei der drei wichtigsten Förderstellen in ihren vorgeburtlichen Gutachten dermassen getäuscht haben. Das Schweizer Fernsehen, sonst gerne als Nivellierungsapparat gescholten, stieg als Koproduzent ein, doch vom Bundesamt für Kultur (BAK) wie auch von der Zürcher Filmstiftung gab es kein Geld für die Herstellung; beide lehnten das Drehbuch als nicht förderungswürdig ab. Stina Werenfels («Nachbeben») liess sich nicht entmutigen, drehte ihre «Dora» trotzdem – aber halt in Berlin, mit kleinerem Budget und einem fast ausschliesslich deutschen Ensemble (siehe WOZ Nr. 4/2015 ).
Die Erweckung der Dora
Und was für ein Film ist das geworden! Einer, der uns seinen Stoff nicht vorkaut, sondern seine Themen auswirft wie Köder: Da habt ihrs, was macht ihr damit? Mit der geistig Behinderten Dora, die ihr sexuelles Erwachen feiert, so selbstbestimmt wie kopflos, so unschuldig wie ungeschützt. Mit dem unausstehlichen Fremden, der sie dabei ausnutzt und bei dem sich Dora doch auch holt, was sie will. Oder mit der Mutter, die ihre aufblühende Tochter auch deshalb so schlecht erträgt, weil sie darin erkennt, was ihr selber abgeht. Insofern funktioniert «Dora» ganz ähnlich wie «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern», die literarische Vorlage von Lukas Bärfuss: weniger als Drama denn als Versuchsanordnung über das Leben als kalkulierbares Risiko – und darüber, was passiert, wenn diese Rechnung nicht mehr aufgeht.
Da will eine Mutter (Jenny Schily) ihre behinderte Tochter Dora (Victoria Schulz) endlich aus ihrem anhaltenden Dämmerzustand erlösen. Sie setzt also Doras Medikamente ab – und gleichsam als Kollateralschaden für die bürgerliche Familie erweckt sie dabei auch Doras sexuelles Verlangen. Diese gerät an einen Pharmavertreter, den Lars Eidinger als schieres Arschloch spielt: gefühlskalt, amoralisch, entwaffnend. Beim ersten Mal läuft ihm Dora bis auf eine öffentliche Toilette nach, wo er sich an ihr vergeht. Aber Dora will dann mehr von ihm. Der Sex wird einvernehmlich, die Liebe (wenn es Liebe ist) bleibt einseitig.
Wie bei Bärfuss wird Dora schwanger, aber Stina Werenfels denkt den Stoff weiter, indem sie ihn in die Gegenwart der biomedizinischen Machbarkeit holt. So versucht die Mutter im Film immer noch verzweifelt, ein zweites, diesmal gesundes Kind zu bekommen – und ist über diesem pathologischen Kinderwunsch in der totalen sexuellen Verspannung gelandet. Entfesselte Libido und erst noch schwanger: Tochter Dora verkörpert eine doppelte Provokation für ihre Mutter. Da ist es nur konsequent, dass am Ende auch die Mutter ihren Körper neu entdeckt, und zwar jenseits der Fruchtbarkeit, in einem surrealen Dampfbad der Promiskuität.
Gute Pille, schlechte Pille
So zeigt sich bis in dieses schwüle Schlussbild, was «Dora» nicht ist: ein gut gemeinter Problemfilm, der uns vor Augen führt, was wir eh schon wissen. Gute Mutter, schlechte Mutter? Gute Pille, schlechte Pille? Stina Werenfels setzt dort an, wo uns die moralischen Gewissheiten entgleiten, mit denen wir unseren Alltag gepolstert haben. Ihr Film führt uns mitten in die Widersprüche einer Gesellschaft, die glaubt, es lasse sich alles mit Medizin und Moral regeln. Und es ist Dora, die dabei die dummen, also richtigen Fragen stellt. Warum soll sie, damit sie nicht schwanger wird, doch wieder Pillen schlucken, wo man sie doch eben noch davon befreit hat? Und in der pränatalen Diagnostik: Wenn es doch so wichtig ist zu erfahren, was für ein Kind sie bekommt, warum soll Dora die Augenfarbe nicht wünschen dürfen?
Das alles ist oft hochgradig unbehaglich, immer wieder sehr komisch, und manchmal beides zugleich, wie dort, wo die hochschwangere Dora mit einer Babypuppe den Alltag als Mutter üben soll: Situationskomik, aber man sitzt wie auf Nägeln. Die sinnestrunkene Kamera von Lukas Strebel, das tolle Ensemble um die Debütantin Victoria Schulz, die Ausstattung, die bis ins Detail ironisch aufgeladen ist: Dieser Film ist eine verführerische Zumutung, die unsere Sinne und unser Denken schärft.
Die Pränataldiagnostiker von der Filmförderung sind übrigens auch sehr angetan von «Dora». BAK-Filmchef Ivo Kummer tut der abschlägige Entscheid jetzt erst recht «furchtbar leid», Daniel Waser von der Zürcher Filmstiftung spricht auf Anfrage von einer bedauerlichen «Fehleinschätzung» seiner Kommission: «Im Nachhinein lässt sich feststellen, dass wir das Potenzial nicht richtig eingeschätzt haben.» Der fertige Film sei aber auch viel fokussierter, als sich das noch in der Drehvorlage abgezeichnet habe: «Er ist in wesentlichen Teilen anders und besser geworden als das, was bei uns eingegeben wurde.» Das suggeriert, dass Stina Werenfels nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Mittel zu einem stärkeren Fokus gefunden hätte. Das mag sogar stimmen. Genauso gut könnte man aber spekulieren, dass «Dora» mit mehr Unterstützung noch komplexer, reicher, also noch besser geworden wäre.
Ab 19. Februar 2015 in den Kinos.
Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern. Regie: Stina Werenfels. Schweiz/Deutschland 2015