Die SP und der Überwachungsstaat: Hinschauen statt davonlaufen
Der Schweizer Geheimdienst soll umfassende Überwachungskompetenzen erhalten. In der nächsten Woche debattiert der Nationalrat über den entsprechenden Gesetzesentwurf. Die SP unterstützt das neue Gesetz weitgehend – und missachtet damit ihr historisches Erbe.
Zum Abschluss der Frühjahrssession behandelt der Nationalrat nächste Woche das neue Nachrichtendienstgesetz (NDG). Kommt das Gesetz durch das Parlament, würde es den Geheimdienst völlig entfesseln: Telefone abhören, E-Mails mitlesen, Wohnungen verwanzen, per Trojaner in fremde Computer eindringen, Privatpersonen und Unternehmen zur Auskunft verpflichten – all das wäre neu oder in viel grösserem Ausmass als bisher erlaubt. Vor allem aber stünde dem Geheimdienst in Form der Kabelaufklärung künftig eine Massenüberwachungstechnik zur Verfügung, die an die Methoden des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA erinnert (vgl. «Mit dem Stethoskop an der Weiche» im Anschluss an diesen Text).
Die Grünen wehren sich konsequent gegen den drohenden Überwachungsstaat, die grüne Fraktion lehnt das neue Gesetz ab. Ermittlungen und Überwachung seien Sache der Bundesanwaltschaft und der Polizei. Dagegen hat die SP komplett die Orientierung verloren. An der letztjährigen Delegiertenversammlung sagte die Parteibasis mit klarer Mehrheit – gegen den Willen der Parteispitze – «Nein zum Schnüffelstaat». Das hinderte die fünf SP-Mitglieder in der vorberatenden Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats (SiK), Evi Allemann, Chantal Galladé, Pierre-Alain Fridez, Edith Graf-Litscher und Eric Voruz, nicht daran, den Gesetzesentwurf – von ein paar kosmetischen Änderungsanträgen abgesehen – durchzuwinken.
«Tragische» Entwicklung
Die WOZ hätte gerne erfahren, weshalb die SiK-Delegation der SP ein Gesetz gutgeheissen hat, das in einen Überwachungsstaat mündet. Doch Evi Allemann fühlte sich fürs Dossier nicht zuständig und verwies auf ihre Kollegin Chantal Galladé. Diese wiederum war in einem Zeitraum von zweieinhalb Wochen derart «voll verplant», dass sie keine Zeit für ein Interview hatte. Schliesslich erklärte sich Edith Graf-Litscher zu einem Gespräch im Bundeshaus bereit. Es blieb bei einer einzigen Antwort. «Nein, den Dokumentarfilm ‹Citizenfour› über den Whistleblower Edward Snowden habe ich nicht gesehen», sagte die Thurgauer Nationalrätin. Die nachfolgenden detaillierten Fragen zur Kabelaufklärung empfand Graf-Litscher dann so sehr als Provokation, dass sie das Gespräch nach einer Viertelstunde abrupt abbrach und davonlief.
Was ist nur los mit der SP? Catherine Weber, Gewerkschafterin und Geschäftsführerin des Vereins Grundrechte.ch, hat darauf eine klare Antwort: «Es ist Wahljahr. Die SiK-Mitglieder gehören eher zum rechten Flügel der SP. Wollen sie in der Mitte Stimmen holen, ist lautstarke Kritik am Geheimdienst eher kontraproduktiv.» Das sei innerhalb der SP allerdings keine isolierte Haltung, im Gegenteil: «Der Themenbereich Grund- und Freiheitsrechte ist für viele SP-Parlamentarier und -Parlamentarierinnen ‹unsexy› und wenig medienwirksam. Im Gegensatz zur Parteibasis hat die SP-Spitze in den letzten Jahren den Kampf dafür praktisch eingestellt – anders als die Grünen», so Weber. Das sei angesichts der historischen Erfahrungen der SP mit dem Überwachungsstaat tragisch.
Das Gesetz war nicht totzukriegen
Noch in den neunziger Jahren war die SP Schweiz mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Massnahmen im Zusammenhang mit der «inneren Sicherheit» unter ihren westeuropäischen Schwesterparteien eine Ausnahmeerscheinung. Während jene stramm an der Seite der jeweiligen Geheimdienste standen, forderten die Schweizer SozialdemokratInnen die ersatzlose Abschaffung der politischen Polizei. Aus gutem Grund: Als vor 25 Jahren der Fichenskandal aufflog, wurde klar, dass der hiesige Geheimdienst während des Kalten Kriegs 900 000 Karteikarten mit Spitzelberichten angelegt hatte – allen voran über AusländerInnen und Linke. Prominente SP-Mitglieder – vom damaligen Parteipräsidenten Peter Bodenmann bis zum heutigen Ständerat und Präsidenten des Gewerkschaftsbunds Paul Rechsteiner – gehörten 1990 zu den Gründungsmitgliedern des Komitees «Schluss mit dem Schnüffelstaat».
1991 reichte das Komitee die Unterschriften für die Initiative «Schweiz ohne Schnüffelpolizei» ein, doch der Bundesrat zögerte die Abstimmung über Jahre hinaus, und das liberale Klima der frühen neunziger Jahre wurde zunehmend von der Angst vor «organisierter Kriminalität» und «kriminellen Ausländern» verdrängt. In der Volksabstimmung 1998 erreichte die Initiative gerade noch 25 Prozent der Stimmen. Zwei Jahre zuvor hatten die SP-ParlamentarierInnen geschlossen gegen das Bundesgesetz über die Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS) gestimmt; das Referendum dagegen scheiterte an 300 fehlenden Unterschriften. Das BWIS trat in Kraft. Das zwischenzeitlich errungene Recht auf Einsicht in Staatsschutzakten wurde wieder abgeschafft.
Die Anschläge in den USA am 11. September 2001 markierten den Beginn einer weiteren Verschärfungsrunde. Der spätere Bundesrat Hans-Rudolf Merz (FDP) propagierte in der ersten Session nach den Anschlägen den «Ausbau der Post- und Fernmeldeüberwachung», das «Eindringen in fremde EDV-Systeme» und den «Einsatz verdeckter Ermittler».
Im Juni 2002 segnete der Bundesrat eine «Lage- und Gefährdungsanalyse» des damaligen Inlandsgeheimdienstes DAP ab und setzte eine Arbeitsgruppe ein. 2006 schickte das Justizdepartement einen Entwurf in die Vernehmlassung, ein Jahr später folgte die Botschaft des Bundesrats. Die SP lehnte die Gesetzesrevision rundherum ab und schaffte es im Jahr 2008, das BWIS II im Nationalrat zu Fall zu bringen – in einer Allianz mit den Grünen und der SVP, der es nach der Abwahl Christoph Blochers als Justizminister leichtfiel, gegen den «gläsernen Bürger» zu politisieren.
Doch die Vorlage war nicht totzukriegen, denn der Ständerat liess 2009 nur eine Rückweisung an den Bundesrat zu. Weil der Inlandsgeheimdienst DAP und der Auslandsgeheimdienst SND in der Zwischenzeit unter dem Dach des Verteidigungsdepartements zum Nachrichtendienst des Bundes (NDB) zusammengelegt worden waren, kam der neue Entwurf nicht mehr aus dem Justizdepartement, sondern aus dem Haus von SVP-Bundesrat Ueli Maurer.
Das Programm des Gesetzes blieb dasselbe – mit einer Ausnahme: der Kabelaufklärung. Gewechselt hatten in diesem Zusammenhang auch die Zuständigkeiten im Parlament und in den Parteien: von den Rechts- zu den SicherheitspolitikerInnen. Und damit wechselte auch die Haltung der SP. Die Ausweitung der Geheimdienstbefugnisse lasse sich «sicherheitspolitisch begründen», hiess es in der SP-Vernehmlassung im Juni 2013.
Offene Debatte im Nationalrat
Ermöglicht nächste Woche ausgerechnet die SP die Rückkehr des Überwachungsstaats? Die Befürchtung steht zumindest im Raum, schliesslich hat «die SP-Fraktion das Vorgehen der SiK-Delegation mit einer Zweidrittelmehrheit unterstützt», wie SP-Fraktionspräsident Andy Tschümperlin gegenüber der WOZ bestätigt. Der Schwyzer Nationalrat sagt aber auch: «Wenn die Minderheitsanträge unserer SiK-Delegation nicht angenommen werden, wird die SP das Nachrichtendienstgesetz ablehnen.»
Sinnvoller wäre es, die Partei würde sich endlich intensiv mit dem NDG befassen. Im Gegensatz zur Mutterpartei hat das die Juso getan. «Wir stehen in den Startlöchern, um das Referendum gegen das neue Nachrichtendienstgesetz zu ergreifen. Die Änderungsanträge der SiK-Delegation entschärfen das Gesetz kaum. Deshalb lehnen wir es grundlegend ab», sagt Juso-Präsident Fabian Molina.
Der grüne Nationalrat Balthasar Glättli hat übrigens angekündigt, in der kommenden Debatte einen Einzelantrag gegen die Kabelaufklärung im NDG zu stellen. Die SP hat also noch eine sehr späte Chance, wieder auf Kurs zu kommen.
Mitarbeit: Amelie Baumann
Kabelaufklärung: Mit dem Stethoskop an der Weiche
Die Kabelaufklärung war lange der blinde Fleck im neuen Nachrichtendienstgesetz (NDG). Dabei rüstet keine andere gesetzlich vorgesehene Kompetenz den Geheimdienst so massiv auf. «Mails, Facebook, Suchabfragen, Whatsapp-Nachrichten: Alles, was über das Internet läuft, könnten die Schweizer Geheimdienstler durchsuchen», hat der «Blick» kürzlich die Kabelaufklärung auf den Punkt gebracht.
Technisch gesehen ist der Zugriff auf unsere Daten im Netz simpel. Ein Grossteil des Internetverkehrs läuft über ein Glasfaserkabelnetz (daher stammt der Begriff «Kabelaufklärung»), wobei dieser Verkehr in grossen Rechenzentren gebündelt wird. An diesen Knotenpunkten kann der Geheimdienst eine Weiche einbauen, die wie ein Stethoskop funktioniert. Sobald gewisse definierte Suchbegriffe über einen Knotenpunkt laufen, saugt die Weiche den entsprechenden Inhalt ab. Die Telekommunikationsanbieter, die das Glasfaserkabelnetz betreiben, wären gesetzlich zur Kooperation verpflichtet.
Für das Absaugen der Daten ist das Zentrum für elektronische Operationen der Armee (ZEO) vorgesehen. Dieser Dienst würde die abgesaugten Informationen an den Geheimdienst weiterleiten. Wer diesen Vorgang kontrolliert, bleibt im Gesetz sowie in der zugehörigen Botschaft unklar, es ist lediglich von einer «Drittstelle» die Rede.
BefürworterInnen dieser Massenüberwachungstechnik weisen gerne beschwichtigend auf folgenden Punkt hin: Das Datenabsaugen gelte einzig für «grenzüberschreitende Signale» und betreffe deshalb nur «die Beschaffung von Informationen über Vorgänge im Ausland». Diese Darstellung ist ein Witz, denn die Infrastruktur des Internets überwindet permanent die Landesgrenzen: Schreibe ich als WOZ-Journalist an eine GMX-Adresse, wird das E-Mail nach Deutschland geleitet, wo der GMX-Mailserver steht. Wer ein Google-Konto oder den Cloudanbieter Dropbox und damit US-amerikanische-Anbieter verwendet, schickt seine Daten über den Atlantik – der Geheimdienst hat Zugriff auf die Inhalte.
Entscheidend ist, dass der Geheimdienst eine andere Logik verfolgt als die Strafverfolgungsbehörden. Diese dürfen erst auf Zwangsmassnahmen wie die Überwachung des Internetverkehrs zurückgreifen, wenn ein Anfangsverdacht besteht und ein richterlicher Beschluss vorhanden ist. Beim Geheimdienst hingegen «muss die Informationsverarbeitung bereits zu einem Zeitpunkt erfolgen, da noch kein rechtsgenügender Verdacht auf die Vorbereitung oder das Vorliegen einer Straftat besteht», wie es in der Botschaft zum NDG heisst. Anders ausgedrückt: Mit der Kabelaufklärung tritt eine präventive Massenüberwachung in Kraft.
Jan Jirát
Nachtrag vom 19. März 2015: Der neue Schnüffelstaat
Der Nationalrat hat Anfang Woche mit 154 zu 33 Stimmen das neue Nachrichtendienstgesetz (NDG) gutgeheissen. Er folgte dem zuständigen SVP-Bundesrat Ueli Maurer auf ganzer Linie. Dieser wiederholte während der Debatte die Mär, dass es «vielleicht zehn bis zwölf Fälle pro Jahr» gebe, die «Eingriffe in die persönliche Freiheit» erfordern würden. Zugleich verharmloste Maurer die Kabelaufklärung, die als Technik zur Massenüberwachung angelegt ist, als «nichts Aufregendes».
Widerstand gegen den entfesselten Geheimdienst kam aus dem grünen und dem sozialdemokratischen Lager, wobei die Mehrheit der SP-Fraktion das NDG zunächst nicht grundsätzlich abgelehnt hatte. Sie wollte das Gesetz stattdessen mit einer ganzen Reihe von Anträgen für mehr unabhängige Kontrollen und einen ausgebauten Datenschutz «verbessern». Doch der Nationalrat lehnte alle Anträge ab, worauf die SP-Fraktion beschloss, das NDG abzulehnen. Die Grünen und die SP haben im Verbund mit ihren Jungparteien bereits angekündigt, das Referendum zu ergreifen, sollte auch der Ständerat das Gesetz durchwinken.
Jan Jirát