New Yorks Bürgermeister: Bürgerschreck aufseiten der BürgerInnen

Nr. 12 –

Zwanzig Jahre lang ist die grösste Metropole der USA von neoliberalen Bürgermeistern als «Luxusgut» an die Meistbietenden verkauft worden. Doch seit gut einem Jahr amtiert Bill de Blasio, der sagt, New York gehöre allen. Und er tut etwas dafür.

Voller Stolz stellte Bürgermeister Bill de Blasio Anfang Februar den New YorkerInnen ein Überbauungsprojekt im Stadtteil Queens mit 11 000 erschwinglichen Wohnungen vor. Eine gute Nachricht in dieser 8,4-Millionen-City mit chronischer Wohnungsnot. Doch kaum war der Applaus für de Blasio verhallt, liess Gouverneur Andrew Cuomo verlauten, aus der Sache werde nichts, der Bundesstaat New York stelle sein Land auf dem Bahngelände der Stadt nicht zur Verfügung.

Der für einmal öffentlich ausgetragene Konflikt zeigt verschiedene Bruchlinien: Da ist einmal das seit je schwierige Verhältnis zwischen New York City, der dynamischen Metropole, und New York State, dem eher beschaulichen Bundesstaat, der in vielen organisatorischen und vor allem finanziellen Fragen (Budget, Steuersatz) die Oberhoheit über den urbanen Raum hat. Da ist aber auch die Spannung zwischen den Politikern Cuomo und de Blasio. Beide sind Demokraten, allerdings mit verschiedener Färbung. Für den Zentristen Cuomo, dessen eigener Wahlkampf von der Bau- und Immobilienlobby in New York grosszügig unterstützt wurde, steht der soziale Wohnungsbau nicht zuoberst auf der Prioritätenliste. De Blasio hingegen versteht sich als Progressiver, als Bürgeraktivist und hat der wirtschaftlichen Ungleichheit den Kampf angesagt.

Oligarchie in Manhattan

Nirgends in den USA sind die Einkommensunterschiede so krass wie im New Yorker Stadtteil Manhattan. 53 der 400 reichsten AmerikanerInnen haben hier ihren Wohnsitz, ihr durchschnittliches Vermögen beträgt 5,7 Milliarden Dollar. In der ganzen Stadt leben 400 000 MillionärInnen, doch auch 4 Millionen Menschen an oder unter der Armutsgrenze. Nach zwanzig Jahren bürgerlicher Stadtregierung gehen vierzig Prozent des gesamten Einkommens der New YorkerInnen an ein einziges Prozent von Grossverdienenden. Das ist doppelt so viel wie im Landesdurchschnitt. Und vor allem ist der Anteil am Gesamteinkommen, den die Reichsten heute einstecken, dreimal so gross wie vor dreissig Jahren.

Kein Wunder: Investmentbanker Michael Bloomberg – und vor ihm Rudolph Giuliani – hatte die Stadt wie ein Privatunternehmen geführt. Mit dem Problem der Armut konfrontiert, betonte er stets, New York sei kein Walmart-Produkt, sondern ein Luxusgut von enormem Wert für diejenigen, die daraus Kapital schlagen können. De Blasio hingegen will eine Stadt für alle, auch für die über drei Millionen ImmigrantInnen und die ethnischen Minderheiten, die zwei Drittel der gewerkschaftlich organisierten Arbeitskräfte stellen. Das kosmopolitische New York ist nicht «typisch» für die USA, doch in den Metropolen, in denen zwei Drittel der Bevölkerung wohnen und die drei Viertel des Bruttoinlandsprodukts generieren, werden zurzeit die sozialen und ökonomischen Weichen für das ganze Land gestellt (vgl. «Linke Hoffnung» im Anschluss an diesen Text).

Privat verkörpert Bill de Blasio geradezu idealtypisch das andere New York. Bevor er 1989 seine politische Karriere in New York antrat, sympathisierte der junge Bill mit den Sandinisten und der Befreiungstheologie. Seine Frau, die Schriftstellerin und Politaktivistin Chirlane McCray, ist schwarz, ein paar Jahre älter als ihr Mann, ausserdem hatte sie sich in den siebziger Jahren als Lesbe geoutet. Die Flitterwochen verbrachte das Paar im «verbotenen» Kuba. Ihre beiden Kinder besuchten in New York keine Privatakademie, sondern die öffentlichen Schulen. Der Afrolook von Sohn Dante erinnert stark an die bekannte Bürgerrechtlerin Angela Davis. Genervt antwortet Tochter Chiara auf dumme Reporterfragen, ihr Vater habe ihre Mutter nicht geheiratet, bloss um zwanzig Jahre später eine Multikultifamilie präsentieren zu können.

Ein neuer New Deal

Als «Bürgerschreck» bietet de Blasio vor allem Rupert Murdochs rechtskonservativem Medienimperium eine ideale Angriffsfläche. Unprofessionell, inkompetent und ideologisch auf Hammer und Sichel fixiert sei «Genosse Bill», findet der TV-Sender Fox News. Die Boulevardzeitung «New York Post» spricht gerne von «Ungleichheitsidiotie». Und das «Wall Street Journal» befürchtet eine Rückkehr zu den «schlechten alten Tagen» der siebziger Jahre, als die City vor dem Konkurs stand und die Kriminalität grassierte. Im ersten Winter warf man dem linken Bürgermeister sogar vor, er habe aus purem Reichenhass die Schneeräumung an der Upper East Side von Manhattan vernachlässigt.

Bill de Blasio lässt sich von solchen Sticheleien nicht gross beeindrucken – auch deshalb nicht, weil das Publikum der klassischen Boulevardmedien immer kleiner und älter wird. Der neue Bürgermeister setzt dagegen auf direkte Kommunikation und soziale Medien. Da erklärt er dann geduldig, dass er an einem bestimmten schneereichen Tag die Volksschulen (und das sind in den USA immer Tagesschulen) deshalb nicht geschlossen habe, weil in New York jeden Tag 200 000 Kinder auf das Schulfrühstück und gar 500 000 Kinder auf das Gratismittagessen in der Schule angewiesen sind.

Politisch orientiert sich der neue Bürgermeister von New York an den zwei grossen Gesellschaftsprojekten der USA im 20. Jahrhundert: an Präsident Franklin Roosevelts «New Deal» der dreissiger Jahre mit seinen robusten Arbeitsbeschaffungsprogrammen und an Lyndon Johnsons «Great Society» der sechziger Jahre, die sich auf die soziale Absicherung der US-AmerikanerInnen sowie auf die Bekämpfung des Rassismus konzentrierte.

Bill de Blasio sieht deshalb Ausgaben der öffentlichen Hand und insbesondere Sozialhilfeprogramme nicht wie seine Vorgänger Giuliani und Bloomberg als lästige Bürde, sondern als Investition in eine bessere Zukunft. Und das sind für ihn vor allem die 1,1 Millionen Kinder und Jugendlichen in New Yorks 1700 öffentlichen Schulen. Statt schlecht funktionierende Schulen einfach zu schliessen, eröffnet er in kritischen Quartieren sogenannte «community schools», Schulzentren, in denen auch andere Sozialdienste wie Wohnungsbeihilfe, medizinische und psychologische Betreuung, Familientherapie, Aufgabenhilfe und Berufsberatung untergebracht und für die Kinder und ihre Eltern leicht zugänglich sind. Und der Bürgermeister hat sein Wahlversprechen eingehalten und das Kindergartenalter von fünf auf vier Jahre gesenkt: Schon im September 2014 wurden 51 000 kleine New YorkerInnen in das neue «pre-K program» aufgenommen. Dieser Vorkindergarten ist altersgerecht und spielerisch, doch er ist fester Bestandteil des öffentlichen Tagesschulsystems. Für die Eltern dieser Kinder, die zu zwei Dritteln im Niedriglohnbereich arbeiten, ist das eine grosse finanzielle Entlastung und für die Kleinen eine bessere Chance auf ihrem Bildungsweg.

In Sachen Bildung tritt der neue Bürgermeister ein schwieriges Erbe an. Die Schulen New Yorks gehören heute zu den am stärksten nach Hautfarbe getrennten Einrichtungen des Landes. Überdies hatte Bloomberg die Gesamtarbeitsverträge der LehrerInnen nicht erneuert – ein Zustand, den Bill de Blasio bereits korrigieren konnte. Eine Inspektion der Schulgebäude ergab, dass lediglich zwei Prozent in einem guten Zustand sind und die meisten dringend renoviert werden müssen. Der Wiederaufbau des öffentlichen Bildungswesens wird viel Geld kosten, und für dieses Geld ist de Blasio auf den Bundesstaat New York oder gar auf die Regierung in Washington angewiesen.

Hintertür für die weniger Reichen

Die soziale Ungleichheit spiegelt sich auch in der Wohnsituation. 85 Prozent der New YorkerInnen sagen, die Mieten seien für sie nicht oder kaum bezahlbar. 250 000 Familien warten auf eine Sozialwohnung der Stadt, obwohl sie von den Wasserbrüchen, Ratten und zerbrochenen Fensterscheiben in vielen dieser Projekte wissen. Rund 60 000 Menschen, ein Drittel davon Kinder, leben in Obdachlosenunterkünften.

Die Stadt versucht angesichts der grossen Wohnungsnot mit der Immobilienlobby zu verhandeln: Umzonungen oder Bewilligungen für verdichtetes Wohnen gegen die Erstellung von erschwinglichem Wohnraum. Doch die Baulöwen lassen sich nur ungern auf solche «Mischungen» ein. Der Grossunternehmer Larry Silverstein hat in seinem 42-stöckigen Wohnturm an der Upper West Side deshalb eine «poor door», einen separaten Eingang für die MieterInnen der «erschwinglichen Wohnungen», eingeplant. Da diese Art sozialer Apartheid gesetzlich (noch) nicht verboten ist, konnte die Stadtbehörde lediglich eine stilistische Aufwertung des Hintereingangs erwirken.

Eine Reform der heute ungerecht tiefen Immobiliensteuer würde in dieser Stadt viele Lösungsmöglichkeiten erschliessen. Doch New York City kann keine Steuersätze festlegen; diese Macht liegt bei New York State und damit beim wirtschaftsliberalen Gouverneur Andrew Cuomo. Auch die staatliche Mietregulierung, die für sechzig Prozent der MieterInnen in New York lebenswichtig ist, muss der Bürgermeister mit dem Gouverneur jedes Jahr aufs Neue aushandeln.

Der Aufstand der Städte : Linke Hoffnung

«Dysfunktionale Nation, dynamische Städte», so sieht der bekannte US-Politologe Benjamin Barber die heutigen USA. Und er ist nicht allein. Immer mehr Fachleute, aber auch linke AktivistInnen setzen ihre Hoffnung auf die Metropolen des Landes. Ganz anders war das in den sechziger und siebziger Jahren, als die Innenstädte gleichgesetzt wurden mit Zerfall und gesellschaftlichem Chaos. In den achtziger und neunziger Jahren dann zog die sogenannte «kreative Klasse» vielerorts in die urbanen Räume zurück und brachte ausgewählte Stadtteile auf Hochglanz. Doch diese Phase sei vorbei, urteilt die Soziologin Saskia Sassen, die Parks seien begrünt, jetzt müsse man sich um die zwanzig Prozent der Menschen am unteren Ende der ökonomischen Leiter kümmern.

Fast alle grossen Städte der USA (mit über 250 000 EinwohnerInnen) sind linker als ihr Umland. Die BürgermeisterInnen von Citys wie San Francisco, Los Angeles, Seattle, New Orleans, Denver, Baltimore und New York erleben die gesellschaftlichen Widersprüche und Nöte auf engstem Raum. Sie alle wünschen sich gerechtere Steuern, existenzsichernde Minimallöhne, bürgernahe Budgets, eine Strafjustiz ohne institutionellen Rassismus, bessere Schulen.

Lange Zeit arbeiteten die einzelnen progressiven Stadtregierungen ziemlich isoliert an diesen Problemen, doch in den letzten Jahren sind verschiedene Netzwerke entstanden. So etwa die Organisation Local Progress (Fortschritt vor Ort), deren rund 400 Mitglieder im letzten Dezember in New York ihre Erfahrungen austauschten. Gastgeber Bill de Blasio lobte seinen Kollegen aus Seattle für dessen führende Rolle im Kampf um einen höheren Minimallohn (siehe WOZ Nr. 42/2014 ). Bereits sieben Millionen Menschen im ganzen Land könnten von Gehaltsaufbesserungen profitieren. De Blasio sagte: «Jedes Mal, wenn wir einen Erfolg feiern, bringt das weitere Städte in Schwung.»

Lotta Suter