«Grenzland Tessin»: Mutter Ziegenhirtin, Sohn Treuhänder
Der ehemalige SRF-Korrespondent Alexander Grass hat ein erhellendes Buch über den widersprüchlichsten Kanton der Schweiz geschrieben.
Was fällt Ihnen ein, wenn Sie «Tessin» hören? Sonne, Palmen, Grotti vielleicht? Die Bankenskandale von Lugano, die Rüpel der Lega, der Streik in den SBB-Werkstätten von Bellinzona, das Filmfestival in Locarno, der Monte Verità, Hermann Hesse. Aber Tessiner Autor:innen? Wohl kaum.
Ein grob gezeichnetes Bild – und auch jene, die die schroffen Berge des Sopraceneri gut kennen, vom Verzascatal-Höhenweg und seinen schönen Hütten schwärmen, wissen meistens wenig über die soziale und politische Realität dieses Kantons. Alexander Grass, in den achtziger Jahren WOZ-Redaktor, von 2002 bis 2018 Tessinkorrespondent für Radio SRF, hat ein Buch geschrieben, das Abhilfe schafft.
«Ruhelos, arrogant, aggressiv»
«Grenzland Tessin» beschreibt die Entwicklung des Tessins seit 1945. Doch ohne die Zeit davor, die Grass kurz, aber erhellend skizziert, ist dieser Kanton nicht zu verstehen. Bei dessen Gründung 1803 waren Nord- und Südtessin so zerstritten, dass der Kanton vor Napoleon von einem Luzerner vertreten werden musste. Noch im 19. Jahrhundert gab es Dörfer, die von Überfällen auf Postkutschen lebten. Und in den mausarmen Bergtälern lernten die Frauen früher lesen und schreiben als in Lugano: Sie wollten die Korrespondenz mit ihren ausgewanderten Angehörigen nicht dem Pfarrer überlassen.
1950 arbeiteten 15 000 Menschen in der Landwirtschaft, 1965 gerade noch 3700: «Nirgendwo in der Schweiz war der Wandel so radikal und so schnell wie im Tessin.» Ein Tempo, das die Gesellschaft überforderte. Grass zitiert den Journalisten Enrico Morresi: «Sie haben in jedes Zimmer einen Fernseher gestellt, und die Mutter bringt die acht Jahre alten Kinder mit dem Station Wagon zur Schule, die nur 150 Meter entfernt von zuhause liegt.» Oder den Rechtshistoriker Pio Caroni: «Dreissig Jahre Wohlstand haben Spuren hinterlassen. Unsere Generation ist ruhelos, arrogant, aggressiv.» Die Schwarzweissfotos des Tessiners Alberto Flammer fangen die Verlorenheit der Boomjahre, ihre Grossbaustellen und Schaufenster ein.
Grass arbeitet mit vielen, sorgfältig ausgewählten Zitaten. Sie zeigen, wie intensiv und selbstkritisch das Tessin über sich selbst nachdachte. Dass unter den Zitierten praktisch nur Männer sind, widerspiegelt wohl die Realität vor wenigen Jahrzehnten. Trotzdem ist es schade, dass Grass der Frage nicht nachgeht, ob es im Tessin Ansätze einer feministischen Bewegung gab.
Viel Platz räumt der Autor den Infrastrukturen ein, ohne die der Wohlstand undenkbar gewesen wäre: den Wasserkraftwerken, Bahn- und Strassentunnels. Während er den Stauseebau kritisch beschreibt – im Maggiatal trauerten die Leute um das Rauschen ihres Flusses –, kommen die Kapitel über den Gotthardstrassentunnel und die umkämpfte zweite Röhre gar positiv daher. Da passt es gut, dass die ehemalige Verkehrsministerin Doris Leuthard das Geleitwort des Buches geschrieben hat. Bei anderen Themen ist Grass’ Blick kritischer, etwa bei den sprach- und identitätspolitischen Kontroversen, dem alten Tessiner Groll gegen die «landvogti» in Bern, der manchmal ins Absurde kippt – sogar die Gurtentragpflicht im Auto wurde als Bevormundung gegeisselt; 1980 stimmten im Tessin 82 Prozent dagegen. Am Beispiel des Walenstadters Hans Horlacher, der im Tessin als Lokführer arbeitete, sich für den Bergsport engagierte und «nach der Rettung von 67 Geissen und 35 Schafen» vom Tierschutz Bellinzona geehrt wurde, zeigt Grass: «Die sprachpolitische Reinheitslehre hat oft fast nichts mit der Realität zu tun.»
Sozial – und fremdenfeindlich
Dass Grass für Radiosendungen mit vielen Menschen gesprochen und viele Orte besucht hat, kommt dem Buch zugute. «Grenzland Tessin» zeichnet ein respektvolles Bild eines widersprüchlichen Kantons, der immer wieder eine Vorreiterrolle einnahm: Hier ist die ausserfamiliäre Kinderbetreuung längst Standard, es gibt vorbildliche Kinderzulagen, hier gilt schon seit 2005 ein Rauchverbot in öffentlichen Räumen, hier werden seit 1990 Kinder mit Behinderungen in den Schulalltag integriert – und dreimal mehr Organe gespendet als im Schweizer Durchschnitt. Hier gibt es aber auch haarsträubende Finanzskandale, und in der Migrationspolitik stimmt kaum ein Kanton so rechts wie das Tessin. Die Italiener:innen, besonders die Grenzgänger:innen, dienen vielen als Sündenböcke für fast alles. Grass hat einige von ihnen begleitet, beschreibt ihre brutal langen Arbeitstage – ein Espresso um fünf und schon vor sechs auf die Autobahn, um vor dem Morgenstau durchzukommen.
Positiver stimmt, was aus den «Officine» in Bellinzona geworden ist. Der viel beachtete Streik von 2008 hatte nämlich Folgen: Nach langen Verhandlungen und dem Engagement von Politiker:innen verschiedenster Parteien haben die SBB beschlossen, die Wartung ihrer Personenzüge ins Tessin zu verlegen. Laut Grass sollen 360 Vollzeitstellen und 80 Lehrstellen entstehen. Das Beispiel zeigt: Streiken lohnt sich – und aktive Arbeitsplatzpolitik ist möglich, wenn sich genug Menschen dafür einsetzen.