Feminismus: Der blinde Fleck im Spiegel

Nr. 18 –

Die Geschichte der Utopie wird vor allem von ihren männlichen Helden her erzählt. Dabei gibt es eine feministische Tradition des Utopischen.

Seit Platos «Staat» war die Imagination idealer Welten mit einem blinden Fleck behaftet: Die Rolle der Frau war in den bekannteren utopischen Entwürfen bis ins späte 20. Jahrhundert kein Thema. Wenn die von Männern dominierten Möglichkeitsspiele diese Frage streiften, dann meist nur als kleinen Widerspruch am Rande, die Frauen blieben schmückendes Beiwerk. Recht unrühmlich für ein Genre, das sich seit jeher vor allem als sozialkritischer Spiegel der Gesellschaft verstand.

Dabei findet man im Schatten der grossen Erzähler eine Vielfalt von feministischen Gesellschaftsentwürfen, die bis ins Spätmittelalter zurückreichen. So entwarf Christine de Pizan bereits im 15. Jahrhundert in ihrem «Buch von der Stadt der Frauen» einen Ort ausserhalb der Gesellschaft, wo Frauen ihre besonderen Fähigkeiten entfalten können. Und 1833 forderte Claire Démar in ihrer Streitschrift «Meine Moral der Zukunft» die Abkehr von Mutterschaft als sozialer Funktion.

Eingeschlechtliche Fortpflanzung

Mit der «ersten Welle» der Frauenbewegung trat die feministische Utopie in die Moderne ein. Zu den Vorreiterinnen zählte Bertha von Suttner mit ihrem Roman «Das Maschinenzeitalter» (1889). In Form einer «Zukunftsvorlesung» erzählt sie darin eine Geschichte der Menschheit, die den Krieg dermassen ins Unermessliche treibt, bis es irgendwann nicht mehr möglich ist, überhaupt Krieg zu führen: «Die Folge dieser Riesenhaftigkeit des Krieges war – sein Ende.» Um die ernsthafte Rezeption ihres Werks nicht zu gefährden, veröffentlichte Suttner das Buch unter dem Pseudonym «Jemand». Erst neun Jahre nach der Erstveröffentlichung gab sie sich als Verfasserin zu erkennen – und ebnete damit den Weg für Autorinnen wie Charlotte Perkins Gilman, die in ihrem Roman «Herland» (1915) eine rein weibliche Gesellschaft beschreibt, die sich eingeschlechtlich fortpflanzt.

Besuch aus der Zukunft

Einen Einschnitt im Utopiediskurs stellte dann Marge Piercys viel diskutierter Roman «Frau am Abgrund der Zeit» (1976) dar. Die Hauptfigur Consuelo, Tochter mexikanischer ImmigrantInnen in Detroit, flüchtet darin immer wieder in Rauschzustände, ehe sie in der Psychiatrie als paranoid schizophren eingestuft wird. Fortan ist sie dem Klinikpersonal und dessen Behandlungsmethoden schutzlos ausgeliefert – bis Consuelo ihre telepathischen Fähigkeiten entdeckt, als Luciente, eine Gesandte aus dem Jahr 2137, mit ihr in Kontakt tritt. Luciente erzählt ihr von der Dorfkommune Mattapoisette, in der sie lebt – in einer hochtechnisierten und doch ländlichen, dezentralisierten Gesellschaft ohne Hierarchien. Piercy stellt in ihrem Roman Geschlechterfragen ganz selbstverständlich neben kritische Fragestellungen zu Ökologie und Rassendiskriminierung, sozialer Hierarchie und Kapitalismus. Wenngleich der Roman für Consuelo unglücklich endet, so eröffnet die Geschichte doch fortlaufend Felder des Veränderbaren, des Utopischen.

Nach der «zweiten Welle» der Frauenbewegung musste sich dann eine neue Generation ihrer Lage und ihrer Möglichkeiten erst bewusst werden, um neue Utopien für sich zu formulieren. Und wenn neuerdings Katniss Everdeen, die Protagonistin der «Hunger Games», gerne als Galionsfigur bejubelt wird, die gegen ein totalitäres Regime für die Utopie einer gerechten Gesellschaft kämpft, so darf man auch wieder daran erinnern: Sie ist nicht die Erste ihrer Art. Und wird auch nicht die Letzte sein.