Mutterschaft: Zerrüttete Körper und Identitäten

Nr. 25 –

Sie setzen sich vom Geschrei der Ratgeberliteratur ab und korrigieren frauenfeindliche Narrative: Olga Ravns neuer Roman «Meine Arbeit» und der literarische Sammelband «Unter Umständen».

An Büchern über Geburt, Mutterschaft und Kinderwunsch herrscht kein Mangel, im Gegenteil. Spätestens seit Heinrich Pestalozzis Wohnstubenpädagogik im späten 18. Jahrhundert sind Fachleute davon besessen, Frauen das Muttersein beizubringen. Obwohl sich Theorien, Methoden und Ideale in den letzten 200 Jahren verändert haben, ist die Kernbotschaft erstaunlich konstant: (Werdende) Mütter sollen «natürlich» sein und sich auf ihre «Gefühle» verlassen – was sie aber erst können, wenn sie das richtige Buch gelesen haben.

Zwar gibt es auch grossartige Texte, die sich mit dem komplizierten Verhältnis von weiblicher Identität und gesellschaftlicher Reproduktion auseinandersetzen: «Die gelbe Tapete» von Charlotte Perkins Gilman etwa, ein Meisterwerk von 1892, in dem das Phänomen der postnatalen Depression auf wenigen Seiten brillant erzählt wird. Oder Franziska zu Reventlows autobiografisch grundierter Entwicklungsroman «Ellen Olestjerne» (1903). Oder Dea Trier Mørchs «Winterkinder» (1976): Das Buch über die Leiden und Freuden auf einer Gebärstation wurde in 22 Sprachen übersetzt, die Verfilmung 1979 an der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet – doch heute ist es so gut wie vergessen. Das ist symptomatisch: Interessante Stimmen gehen im Geschrei bevormundender Beratungsliteratur unter oder werden durch das Etikett «Frauenliteratur» als Nischenthema aus dem Kanon ausgeschlossen.

Sich nicht spalten lassen

Zum Glück erlebt das Thema seit einigen Jahren jenseits dieses Beratungskanons einen Boom. Besonders erfreulich sind die grosse Vielfalt und die literarische Qualität vieler Texte. Zwei aktuelle Veröffentlichungen sind besonders lesenswert: Der Roman «Meine Arbeit» von Olga Ravn und die Anthologie «Unter Umständen», herausgegeben von der Verlegerin Jil Erdmann und der Schriftstellerin Lena Käsermann.

Die dänische Schriftstellerin Olga Ravn brillierte bereits 2022 mit dem Science-Fiction-Roman «Die Angestellten. Ein Roman über die Arbeit im 22. Jahrhundert», in dem sie den Fetisch «Produktivität» und die Definition von «Arbeit» hinterfragt. Dieses Projekt führt sie mit ihrem aktuellen Roman weiter. Wenn die Arbeit der Mutter darin bestehe, «Kinder in die Welt zu setzen, das Haus sauber, das Essen gesund und das Herz warm zu halten, ihren Körper zu pflegen und zu stärken», so Ravn, «ist ihr Schreiben über den eigenen Körper und Haushalt dann nicht Arbeitsplatzliteratur?». Ein Schreiben, dessen Bedingungen sich zudem durch die Geburt verändert haben.

Der Körper, mit dem die Autorin schreibt, ist zur Nahrungsquelle geworden und wird von ihrem Kind regelrecht gemolken, vor allem aber hat das Trauma der Geburt ihre Identität zerrüttet, sodass sie später befremdet auf die Person zurückblickt, die sie in den ersten Monaten der Mutterschaft war. Diese Zerrüttung setzt Ravn literarisch raffiniert um, indem sie sich durch ein Pseudonym distanziert und zur Herausgeberin ihrer eigenen Textfragmente macht: «Einigen wir uns für den Moment darauf, dass nicht ich es war, die es geschrieben hat. Eine andere Frau, vollkommen anders als ich. Nennen wir sie Anna.»

Die Herausgeberfiktion ist nur eine von vielen literarischen Traditionen, mit denen Ravn spielt. Unter dem Deckmantel «Roman» verknüpft sie Tagebucheinträge, Lyrik, medizinische Berichte, ein Mini-Theaterstück und literaturhistorische Erkundungen. Sie entdeckt eine grosse Gemeinschaft von schreibenden Müttern, nicht zuletzt Mary Shelley, die mit «Frankenstein» das Monströse der Reproduktion genial verarbeitet hat. Durch die Auseinandersetzung mit historischen Texten gelingt es Ravn, ihre eigene Erfahrung in Beziehung zu anderen, ähnlichen Erfahrungen zu setzen, um so die gefährliche Spaltung von Mutter und Autorin zu überwinden.

Dabei geht es ihr nicht nur um die eigene Gesundheit, sondern auch um ein gesellschaftliches Phänomen, um das «Feld zwischen den etablierten Wahrheiten über Entbindung, Schwangerschaft und Geburt, die wir einander erzählen, und den tatsächlichen Gefühlen der Menschen. […] Das totale Missverhältnis zwischen den Geschichten über die Geburt und der Geburt an sich.»

Ehrliche und radikale Betrachtung

Dieses Missverhältnis zu korrigieren, ist auch Ziel der Anthologie «Unter Umständen». Es gehe darum, «ein Scheinwerferlicht in die unsichtbaren Ecken unserer Vorstellungen von Mutterschaft» zu werfen, «um Platz für ehrliche und radikale Betrachtungen zu schaffen», heisst es im Vorwort der Verlegerin. Neben autobiografisch grundierten Geschichten, die vom Muttersein erzählen, enthält der Band auch Texte, die auf den ersten Blick überraschen: Tabea Steiner schreibt über die Trauer über ihre ungewollte Kinderlosigkeit, die ihr Schreiben begleitet, vielleicht sogar als grundlegende, unerfüllte Sehnsucht bestimmt: «Dieses Kind, das ich nie haben werde, wird in meinen Texten noch lange nachweisbar sein.»

Einen ganz anderen Ton schlägt die Journalistin Anne-Sophie Keller an, wenn sie von ihrer unkomplizierten Abtreibung berichtet, die sie weder körperlich noch seelisch belastet hat. «Ich habe diesen Text geschrieben, weil es ihn noch nicht gibt», sagte sie bei der Buchvernissage. Dass es diese Art von Aufklärung heute noch braucht, ist unfassbar. Tatsächlich wird Abtreibung noch immer als Drama dargestellt, das alle Betroffenen lebenslang zeichnet – was sich nicht mit den Erfahrungen vieler deckt.

Von falschen Bildern erzählt auch Julia Webers fiktive Geschichte, in der eine Mutter darüber nachdenkt, wie sie schon früh auf den Kinderwunsch konditioniert wurde – und wie erfüllend und erschreckend sie das tatsächliche Muttersein erlebte: «Wie diese Urkraft, die durch die Geburt des Kindes nun in ihr wohnte, diesem fremden, beleuchteten Plastikmutterbild gegenüberstand, dem Mutterbild, in das nie irgendeine Mutter hineinpassen wird.» In Anna Ospelts Gedichten hingegen geht es nur zwischen den Zeilen um Mutterschaft. Im Fokus steht, wie sich das lyrische Ich seinen Raum zum Schreiben zurückerobert: «Ich bewohne zwei Tage lang ein Zimmer für mich alleine. Passe bei der Rückkehr nicht mehr in unser Haus.»

Es ist das Bestechende an diesem Buch, dass es das Thema weit fasst und so ein Zeichen gegen die vermeintliche Gegnerschaft von Frauen mit und ohne Kinder setzt. «Die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Eltern- und Mutterschaft umgehen, betrifft uns alle», heisst es im Vorwort. Die Frage kann nur sinnvoll beantwortet werden, wenn die engen, oft frauenfeindlichen Narrative durch Geschichten aus der Wirklichkeit korrigiert werden.

Gerade darin besteht die literarische Herausforderung. Denn über Schwangerschaft, Mutterschaft und Geburt zu schreiben, heisst auch, nach einer Sprache zu suchen, die den stereotypen «Plastikmutterbildern» widersteht. «Keine Sprache für die Mutter, die du bist», schreibt Julia Weber. Dass sowohl die vierzehn Autorinnen als auch Olga Ravn ihre je eigene Sprache gefunden haben, die sie dem Geschrei der Beratungsliteratur entgegensetzen, ist auch literarisch ein Vergnügen.

Buchcover von «Meine Arbeit»
Olga Ravn: «Meine Arbeit». März Verlag. Berlin 2024. 460 Seiten. 43 Franken.
Buchcover von «Unter Umständen»
Jil Erdmann, Lena Käsermann (Hrsg.): «Unter Umständen». Verlag sechsundzwanzig. Zürich 2024. 200 Seiten. 34 Franken.