Digitale Abrissbirne: Ich werde immer dürftiger als meine Maschinen sein

Nr. 19 –

Unser liebes Internet ist ein Gast, der niemals wirklich geht. Die Schriftstellerin Katja Brunner über die jüngste Zeitmörderin und das mögliche Ende unserer Fantasie.

So, ich möchte mich an dieser Stelle beschweren, denn da erschwert so einiges die Wahrnehmungsfront. Hoffentlich nicht diese beschwerdeneigene Kleinlichkeit: Ich bin zu kurz gekommen, die Welt hat ihre Versprechen nicht gehalten, die standen doch so programmiert in dieser Biografie!, viel eher ist alles oftmals zu lange gekommen, und jetzt haben wir den Salat, nicht nur den einen, sondern aneinandergedrängte Salatschüsseln, fix zubereitet, die die Tischplatte zum Bersten zwingen.

Bitte denken Sie die mögliche Niedlichkeit des Wortes «beschweren» weg. Normalerweise wird sich vielleicht in Ferienresorts beschwert, auf Autobahnraststätten, wo es wohl am zwecklosesten ist, oder nach Friseurbesuchen. Für alle, die diese Dinge – Ferienresortferien, Autobahnraststättenkaffee und entstellende Haarschnitte – für sich selbst erledigen und daher nicht ständig ihr Vertrauen in Dienstleistungen verletzt sehen: Herzlichen Glückwunsch. Für alle anderen: Willkommen in der Wohlstandsstarre.

Es gibt da doch diese Zeittilgungsmaschine, die gebefreudig unterbruchslos in Betrieb ist. Diese Tagesstrukturzerstörungsexpertin. Diese Übersichtsverunmöglicherin. Ja, diese horizonterweiternde Wissen-in-sich-Stapelnde, diese Ermöglicherin, ja diese Vernetzerin, eine sättigende Instanz genauen und massenhaften Wissens. Sie ist auch: eine Besserwisserin, eine maschinistisch kühl Wissende, die Horterin unendlicher Massen an Stunden von Menschen, zugebracht vor Kameraaugen, in Freiwilligkeit sich (mit)teilend, zerteilend, ständig und für immer abrufbar, ewig gelatiniert. Es gibt keinen Tod in ihr, dieser Zeittilgungsmaschine, sie kennt keine Pausen. Es gibt in ihr keine Vergangenheit, es gibt nur dieses ewig untote Archiv an Gegenwart. Unsere selbst hergebetene Zeitmörderin. Ein Gast, der niemals wirklich geht.

Auch natürlich: diese Gebärende von Kriminalität, dieser blühende Busch des ungefilterten Hasses, dieser Tummelplatz kühner und kühnster, kruder und krudester Angebote. Dieses haftende Netz, dieser hell strömende Fluss. Mit Kindern drin zum (Ver-)Kaufen, Gebrauchtautos, Terrarien, Hundekeksen, Menschenpuppen, Dienstleistungen jeder erdenklichen Art.

Katja Brunner.

Ich habe mal gehört, man kann sie, die Zeittilgungsmaschine, die sich als Schenkende ausgibt, auch als weises Orakel (be)nutzen, das sie eben angeblich und vor allem wäre. Nur weiss ich nicht, wie. Vielleicht erleuchtet mich ja noch etwas.

So. Was sie auch ist, sie ist eine entgrenzte Mitwisserin. Die totale Mitwisserin. Unser liebes Internet.

Meine Generation als du

Diese abgeklärte Geste des «been there done that», die Geste des Wegwischens: Habe ich bereits zur Kenntnis genommen, weiss ich schon, habe ich schon, lese ich später, und es schiebt sich dann von selbst sofort in ein unendliches Bücherregal zurück, das parallel zu einem anderen unendlichen Bücherregal steht, und da parallel nochmals ein Bücherregal, noch eins und noch eins.

Verlernt man das Aushalten der Gegenwart bei erhöhtem Internetkonsum? Wenn man körperstarr Video nach Video verzehrt? Verlernt man das Aushalten anderer? Das Ausgleichen zwischen ihren Bedürfnissen und den eigenen? (Denn mein Browserfenster reagiert ausschliesslich auf meine Wünsche.) Verlernt man es, die Erfahrung des anderen / der anderen zu (er)leben, weil eine Maschine gehorcht, solange sie gehorchen kann? Weil eine Maschine kaum aus Eigenständigkeit heraus Widerstand leistet? Wird man zwangsläufig die Metamorphose zu einem monomanischen Zombie antreten? (Mir ist das ernst.) Büsst man an Sozialkompetenz ein, wenn man Tag für Tag, Abend für Abend in Eigenwahl durch Internetwelten saust? Verliert man die Durchlässigkeit für Zustände und Verhalten der anderen? Schwinden Qualitäten, die ein solidarisches Zusammenleben bedingen? Geht man durch Strassen, besieht sich abends Mensch um Mensch um Mensch, der alleine am Rechner sitzt, blauer Schein, niemals allein, bebilderschirmt, doch allein: Man könnte es meinen, man wäre geneigt, obige Fragen mit vehementem Ja zu beantworten. Man könnte es auch meinen angesichts der viel beschworenen Achtsamkeit.

Eine kleine Auswahl an Dystopien

Algorithmen, abgeleitet aus Datenmassen, können ermitteln, was du denkst, bevor du es gedacht hast. Die Zeit des «Big Brother is watching you» wird abgelöst von «Your brain follows big data», frei nach Byung-Chul Han. Hab mir das irgendwie anders vorgestellt mit Familie.

Ich möchte Menschen nicht im Menschenlexikon nachschlagen können. Gestaltet man noch wirklich – oder ist man bloss AuswählendeR? AuswählendeR statt EntscheidendeR ? Wozu die grelle Ausleuchtung des Selbst? Zur Existenzberechtigung? Ich klicke, also werde ich geworden?

Lieblingsfrage aller TechnikpessimistInnen: Was ist mit den Kindern? Neuerdings wirbt mein E-Mail-Anbieter mit einem Jungen im Strampler, der an einem Tablet herumstreichelt. Ich schätze ihn auf vier Jahre. Rausgehen soll er wahrscheinlich nicht mehr, er soll verschmelzen mit seinem Gerät. Wie altklug ist es, dass ich eine Sekunde lang denke: Ach ja, ich – Kind der Neunziger – habe schon gefühlt verdammt wenig Naturerfahrungen gemacht, und was ist mit diesem Jungen? Muss ich dann mit Schmirgelpapier bei ihm vorbeigehen und ihm die Knie aufschleifen, damit er wenigstens ahnt, wie es sich angefühlt hätte, wenn er draussen mit dem Fahrrad und der Gravitation in Konflikt gekommen wäre? Wie viele Fotos wird es von ihm geben im Alter von acht? Was für ein Verhältnis zur Vergangenheit wird er haben, wenn sie stets mir nichts, dir nichts auf einem in der Nähe liegenden Gerät abrufbar, vermeintlich zeigbar ist? Konkurriert er mit den Maschinen um die Gunst seiner Erziehungsberechtigten? Wird ihm Privatsphäre fremd vorkommen?

Als Sklave deiner Maschinlein

Dann aber bitte effizient sein, lieber Mensch. Dann aber bitte ran an die Tasten und rein ins Vergnügen. Dann aber bitte aufs Vergnügen verzichten, sofort mit deinen Vorgesetzten kommunizieren, dann aber bitte den Müll raustragen, dann aber bitte dem Telefon buckelnd gehorchen, schnellstmöglich diesen Scan rübermogeln, und bitte nichts Haptisches mehr, lieber Mensch, nichts mehr tun so mit den Händen, gar nicht mehr handeln, auf keiner Ebene, ausführen und konsumieren, nicht mehr handeln, nur fingern, aber auch nicht wirklich, die Finger einfach als Druckmittel auf eine Taste verwenden: nur noch schneller, besinnungsloser, bitte keine Besinnung, nie, bitte höchstens mal innehalten auf dieser Website, wie hiess die noch mal, ich kenn die gut, die mit der Beruhigungsstimme und den Wasserfällen. Dann wieder rein in die gute Stube und ran an die Maschine, die dir sagt, wer du bist und warum, die deine Interessen, deine Mutter und deinen Uterus besser kennt als du, dann rein in die Kommunikation. Ist ja eh viel besser ohne die Abfallprodukte der Menschen. Rein in die Preisgabe, hopp, rein nach Facebookland, das dir die Sprache für dein Erleben diktiert, das dir die Zeichen vorgibt, in denen du empfindest. Schön, dass du hier deinen voyeuristischen Trieb befriedigen kannst. Nein, ich persönlich wollte schon lange aussteigen, ich nutze es eher so als Werbefläche, ah ja, die Ausreden einer jeden Ich-AG.

Dir ist aufgefallen, dass du eigentlich immer nicht weisst, woher die Redewendung «den Fisch machen» kommt und ob sie international verwendbar ist, daher schnell mal nachschauen, asap merken, weil grade wichtig, nur der Gang zur Bibliothek ist dir zu schwer. Wie das gehen soll mit der Zukunft, wenn das Wissen, das man erguugelt, nicht mit Erfahrung verbunden ist? Ist der Unterschied zum realen Lexikon einer?

Dann einen Film geschaut, in dem es hiess: Glaubst du auch, das Internet ist wie Träumen? Nein, definitiv nicht. Denn dann halte ich das Internet für das Ende der Fantasie. Wenn der Imaginationsraum von Geist, Kopf, Körper nicht grösser – weil real geerdet und vor allem wahrhaft jedem Menschenwesen eigen – als das Internet ist, dann beklage ich grossen Verlust. Dann betrauere ich das Ende der Fantasie. Wenn die zur Verfügung stehenden Vorstellungswelten vom Internet besetzt werden, vordefiniert sind.

Die Qual der Wahl: Wie viel Zeit und Energie habe ich verschwendet, weil mit jedem Klick Entscheidungen gefällt werden müssen? Um doch wieder in mehrgleisigem Konsum zu enden? Ist das Verführung, oder muss ich an meiner Determiniertheit arbeiten? Mich immer noch durchlässiger für Konsum machen? Mir Ausbeutung der Empfänglichkeit als Strategie zur Selbstverwirklichung verkaufen?

Mein Zahnarzt sagt, ich hätte nur einen Weisheitszahn, dann flüstert er: «Sie sind wohl evolutionsbedingt schon weiter als unsereins», und zeigt auf sich selbst. Der Junge im Strampler, der für die Ewigkeit konserviert tagein, tagaus sein Tablet streichelt, wird bestimmt gar keinen Weisheitszahn je kriegen. Wenigstens darüber staune ich kurz. Noch eine traurige Vermutung: Mit dem Internet, das alles gleichwertig macht, habe ich das Staunen verloren, das Staunen, das in Denken mündet. Wisch und weg, wisch und weg. Korrumpiertes Krüppeldenken.

So hat man der Natur den Tod erklärt, und so hat man das passende Mittel gefunden, dieser Natur den Tod zu geben.

Es gibt keine Sprachlosigkeit mehr für keinen Zustand der Welt, aber hier: Zombiezustand.

Verweigerungsversuch

Steigt man auf den guten alten postalischen Weg um, geschieht in der Regel Folgendes:

Eine Rechnung
ArbeitgeberInnen möchten nicht auf
postalischem Wege kommunizieren
Keine Jobs
Drei Rechnungen
Kein Geld
dafür mehr nervige Telefonate

Und ja, eh, die Neunziger waren mediatisiert durchs Fernsehen, da hat man sich damals auch ganz schön in die Hosen gemacht, und Walter Benjamin hat sich vor dem Klingeln des Telefons in der Stille seines samtvorhanggedämpften Nachmittags noch gefürchtet, Franz Kafka sprach von Briefen als einem Verkehr mit Gespenstern, an dem wir dereinst zugrunde gehen würden; ach ja, die Gleichgültigkeit, die das Körpergestell durchströmt, nachdem man ein Katzenvideo angeschaut hat, da spielt nichts mehr eine Rolle, morgen wieder Selbstoptimierung, man gewöhnt sich an alles. Ein Kreuz auf das Grab der Privatsphäre, ein Hoch auf beschleunigte Asozialität, auf Komplettvereinzelung im blauen Schein der Entwertung. Nieder mit den Pausen.

Katja Brunner

Die 23-jährige Zürcher Autorin Katja Brunner studierte an der Hochschule der Künste in Bern und an der Universität der Künste in Berlin. Mit ihrem Debüt «von den beinen zu kurz» (2012) gewann sie 2013 den Mülheimer Dramatikerpreis, eine Hörspielfassung ist beim Verlag Der gesunde Menschenversand auf CD erschienen.

Ihr Stück «Geister sind auch nur Menschen» feiert dieser Tage Premiere am Luzerner Theater, wo Katja Brunner in der laufenden Saison als Hausautorin wirkt.

«Geister sind auch nur Menschen» von Katja Brunner am Luzerner Theater: Freitag, 8. Mai 2015, 19.30 Uhr (Premiere). Weitere Vorstellungen 
siehe www.luzernertheater.ch.