«Westworld» und «Black Mirror»: In der Hölle der untoten Erinnerungen
Zwei smarte neue Serien operieren an den brisanten Schnittstellen von Mensch und Maschine – und umkreisen dort einen Zustand, der schlimmer ist als der Tod.
Das mechanische Klavier im Westernsaloon aus dem 19. Jahrhundert klimpert freihändig Songs aus der Zukunft – die bereits wieder vergangen ist: «Paint It Black» von den Rolling Stones, «No Surprises» von Radiohead und «Black Hole Sun» von Soundgarden. Jonathan Nolan, einer der beiden Schöpfer der neuen HBO-Serie «Westworld», erklärt dieses Pianola, das mit Lochstreifen als primitiven Datenträgern funktioniert, kurzerhand zur Hommage an die ersten Roboter. Solche Lochkarten aus Karton wurden auch für die ersten Rechenmaschinen benutzt, die Vorläufer der heutigen Computer.
Die Welt von «Westworld» ist voll von solchen kulturgeschichtlichen Verweisen – und bevölkert von Heerscharen menschlicher und tierischer Roboter wie Cowboys, Huren, Pferde und so weiter, die aber natürlich ein viel komplexeres Innenleben haben als das gemütliche automatische Klavier. «Westworld» ist der Name eines riesigen Freizeitparks, der es seinen menschlichen Gästen erlaubt, wie in einer detailliert ausgestalteten Zeitkapsel für ein paar Wochen hautnah im legendären Wilden Westen der USA herumzureiten. Oder wie es der Schriftsteller Michael Crichton in seinem gleichnamigen Kinofilm von 1973, auf dem «Westworld» lose basiert, verkündet hatte: «Der Urlaub der Zukunft – schon heute.»
Ballermann in Wildwest
Wer diesen Feriengästen bei ihrem wilden Treiben zuschaut, merkt allerdings bald, dass es vor allem um dreierlei geht: Saufen, Schiessen und Ficken – gerade wie am Ballermann-Strand von Mallorca, einfach in historischen Kulissen. Nicht die computerbetriebenen Menschen sind hier automatisch einfältig und berechenbar, sondern diejenigen aus Fleisch und Blut. Alles recht simpel gestrickt also? Der Schein trügt, denn unter der Prärie liegt ein weitverzweigtes Kelleruniversum begraben: die Schaltzentrale des Parks, wo die Roboter nicht nur programmiert, gesteuert und gewartet, sondern auch von Grund auf konstruiert werden. Und wo eine eigene «Abteilung für Geschichten» damit beschäftigt ist, neue Erzählstränge zu entwickeln, die im Park oben dann in endlosen Loops nachgespielt werden können: für immer neue Gäste – oder für die alten, die ihr perverses Vergnügen oft gerade in der Wiederholung von Mord und Vergewaltigung finden.
Alles läuft so weit nach Plan. Wären da bloss nicht die sich häufenden Anomalien bei den älteren Robotermodellen – und die aufbrechenden Konflikte zwischen dem Management und den verschiedenen Kreativbereichen.
Willkommen im heftig pochenden Hightechherzen einer der schlausten Metafiktionen zum Thema «Mensch und Maschine», die es im Moment zu sehen gibt! Die Einsicht, dass Roboter womöglich die besseren Menschen sind, wurde ja bereits in «Alien: Resurrection» (1997) oder auch in Steven Spielbergs «A. I.» (2001) durchgespielt. Was aber «Westworld» so unwiderstehlich macht, ist nun, dass alles noch viel vertrackter und verstörender sein könnte. Bei der Untersuchung der fehlerhaften Maschinenmenschen, die plötzlich entsetzt ins Leere starren, gewalttätig oder kreativ werden oder wie nach einem Schlaganfall hilflos zucken, wird klar, dass sie an Reminiszenzen leiden: an traumatischen Erinnerungsfetzen, die mysteriöserweise aus den Schaltkreisen ihrer doch regelmässig säuberlich formatierten Festplatten emporsteigen und sie ausser Gefecht setzen.
Roboter auf der Couch
Damit werden wir unversehens erneut ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückkatapultiert, in jene Zeit also, als auch die Lochkarte verbreitet eingesetzt wurde und Sigmund Freud mit seinem Kollegen Josef Breuer die bahnbrechende Einsicht hatte, dass ihre Patientinnen, die «Hysterikerinnen», an schmerzhaften Reminiszenzen oder Erinnerungen litten, die sie mit körperlichen Symptomen ausagierten. Damit war das Unbewusste entdeckt, und die sogenannte Sprechkur wurde entwickelt, um die psychisch Leidenden zu heilen oder wenigstens analytisch zu erleichtern. In der Roboterklinik von «Westworld» funktioniert diese Sprechkur etwas anders. Man tippt dem kranken Roboter sanft an die Stirn und sagt das Zauberwort «Analyse!». Worauf der täuschend echte Maschinenmensch mit monotoner Zweitstimme detailliert berichtet, was ihm oder ihr in ferner oder naher Vergangenheit widerfahren ist.
Dass eine solche lückenlose Abrufbarkeit der eigenen Geschichte auch Fallstricke birgt, zeigt prägnant eine ältere Folge der ebenso düsteren wie durchdachten britischen Serie «Black Mirror», die 2011 auf Channel 4 startete und neu von Netflix produziert wird. Der vielgerühmte Mehrteiler des Satirikers und Gameforschers Charlie Brooker nähert sich der brisanten Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine von der menschlichen Seite her. Der Titel «Black Mirror» verweist auf die schwarz glänzenden Ruhebildschirme unserer grossen und kleinen Computer, die uns das eigene Spiegelbild zurückwerfen: Wir sind gemeint.
Welt ohne Geheimnis
Die fiktionale Welt der je in sich geschlossenen Einzelfolgen von «Black Mirror» wirkt bloss ein klein wenig in die Zukunft versetzt. In «The Entire History of You» gehts um ein Körperimplantat, das fast alle hinter dem Ohr tragen. Es speichert alles, was über eine ebenfalls fix in die Netzhaut eingebaute Kamera ständig aufgezeichnet wird, und macht es über Jahrzehnte hinaus abrufbar, für einen selber oder für Publikum, inklusive Zoomfunktion: das Mitarbeitergespräch mit den Vorgesetzten, der geile Sex mit der Affäre, der Streit mit der Gattin.
Das Angebot ist unwiderstehlich. Ein mal erpresserisch oder eifersüchtig motivierter, mal bloss nostalgischer oder masturbatorischer Wiederholungszwang treibt die Menschen an, einzelne Szenen ihres Lebens obsessiv immer wieder anzuschauen. Mitmenschen werden genötigt, mitzugucken oder Stücke aus der eigenen Vergangenheit preiszugeben. Die Welt erstrahlt im geheimnisfreien Terror dieses totalen Aufzeichnungs- und Analysewahns. «The Entire History of You» durchmisst eine Variante der Dialektik der Aufklärung, die noch die düstersten Fun-ist-ein-Stahlbad-Zukunftsfantasien von Adorno und Horkheimer erblassen lässt. «Organische Erinnerungen»? Unzuverlässig und manipulierbar, behauptet die Firma, die das neue Gadget verkauft.
Anders als «Westworld» interessiert sich «Black Mirror» weniger für allzu menschelnde Roboter als für die viel unangenehmere Umkehrvariante: Menschen, die in ihrer fortschreitenden Verschmelzung mit allerlei neuen Geräten und Möglichkeiten selber immer mehr zum Roboter mutieren. Eine weitere Geschichte von «Black Mirror» erfindet den Albtraum eines Justizvollzugs als Gameshow mit menschlichen TeilnehmerInnen. Statt in der Zelle zu sitzen, muss die Verurteilte im «White Bear Justice Park» jeden Tag denselben monströsen Parcours absolvieren, als gehetztes Opfer einer gnadenlosen Treibjagd, die den ParkbesucherInnen als Spiel und Spass verkauft wird. Sie rennt immer wieder neu um ihr Leben, wird erniedrigt und ausgelacht. Gerade so wie die Roboter im «Westworld»-Park. Dann werden ihre Erinnerungen gelöscht, und die nächste Treibjagd kann beginnen. Nicht umsonst beschreibt der «New Yorker» die einzelnen Episoden von «Black Mirror» als «45-minütige Panikattacken».
Gejagt und geplagt
Je mehr von diesen nervtötenden Attacken man sich anschaut, desto bleierner wirkt leider auch der Kulturpessimismus von Charlie Brookers Zukunftsvisionen. In der dritten und neusten Staffel bringt er uns unheimliche Roboterbienenschwärme, eine grausame Erpressungsaktion mit gehackten PC-Webcams, eine junge Frau in der Likes-Hölle einer von Social Media regierten Welt. Sogar die reihum als hoffnungsfroh gepriesene Folge «San Junipero», eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Frauen, wirkt wie eine Technoerweiterung von «The Walking Dead», einfach im bunten Retrolook.
Schlägt Charlie Brooker also einfach den Sack in Gestalt der Gadgets und neuen technischen Möglichkeiten, wenn er sich doch eigentlich den Esel vornehmen müsste: die profitgetriebene Industrie, ihre Verschränkung mit den Überwachungsgelüsten der Regierungen und uns selbst als willig zugerichtete DatenspenderInnen?
Liest man «Black Mirror» mit «Westworld» zusammen, lässt sich allerdings sehr wohl eine knallharte Systemkritik herausschälen. Denn interessanterweise umkreisen sowohl «Westworld» als auch «Black Mirror» immer wieder einen Zustand, der augenscheinlich schlimmer ist als der Tod: ein Gefangensein in der ewigen Wiederholung des Immergleichen, scheinbar ohne Ausweg. Gejagte und geplagte Maschinenmenschen und Menschenmaschinen erscheinen gleichermassen als Marionetten ihrer immer wieder gelöschten traumatischen Erinnerungen, die aber trotzdem Splitter hinterlassen. Diese verschärfen sich zur Folter einer permanenten vagen Ahnung: War ich nicht schon zigmal in dieser aussichtslosen Lage? Lebe ich in einer monströsen, endlosen Wiederholungsschlaufe ohne Ausbruchmöglichkeit oder wenigstens den halbwegs beruhigenden Boden der Gewissheit?
Gut möglich, dass Fredric Jamesons oft zitiertes Bonmot, die Welt könne schon untergehen, aber der Kapitalismus werde auch das noch überleben, in dieser höllischen Kondition sein grausam exaktes Sinnbild gefunden hat. Der untote Kapitalismus als Zombiezustand, der sich auf den Menschen überträgt: eine undurchsichtige und existenzielle Gehetztheit, bei der sogar der Tod eine Erlösung bedeuten würde.
Der kommende Aufstand
Der Vorteil von Fiktionen wie «Westworld» ist, dass sie einen Ausbruch oder eine Revolution zumindest erträumen können. Den Weg weisen dabei nicht die schwerfälligen biologischen Menschenmaschinen, sondern die oft gescholtenen menschenähnlichen Roboter. Sobald diese neuen Wesen hinter die Wahrheit ihres Daseins gekommen sind, merken sie: Die letzten Grenzen wie Geburt und Tod und sogar das Leben selbst, die uns Menschen so teuer sind, bedeuten ihnen wenig. Ihre fehlende Angst vor dem Tod macht sie überlegen. «Diese Götter sind Waschlappen», sagen die Roboter von «Westworld» verächtlich, als sie realisieren, wie schwach diese scheinbar allmächtigen Menschen doch sind, die sie jahrzehntelang manipuliert, versklavt und erniedrigt haben.
Keine neue Entrechtung und Sklaverei ohne neue Kämpfe. Man darf gespannt sein auf die kommenden Aufstände der zweiten Staffel von «Westworld», die 2018 starten soll. Zu hoffen bleibt, dass uns die smarten Roboter weiterhin mehr als bloss schwarze Spiegel vorhalten werden. Und dass wir ihre fremden Utopien und Wahrheiten auch zu entschlüsseln wissen.
Die deutschsprachige Premiere von «Westworld» läuft ab 2. Februar 2017 auf Sky Atlantic HD. Die dritte Staffel von «Black Mirror» gibts bei Netflix, die ersten beiden Staffeln sind auf DVD erhältlich.
Westworld. USA 2016. TV-Serie
Black Mirror. Grossbritannien 2011-2016. TV-Serie