Geschichtsdebatte: Mit verwässertem Relativismus gegen die Wissenschaft
Die Debatte um Marignano und die Schweizer Neutralität zeigt: Die Geschichtswissenschaft muss sich gegen die ständigen relativistischen Angriffe rechtskonservativer Publizisten zur Wehr setzen. Denn entgegen den Behauptungen aus diesen Kreisen ist Geschichte nicht bloss Ansichtssache.
Zurzeit bringen sich Publizisten rechtskonservativer Gesinnung rege in die akademische Geschichtsschreibung ein. Markus Somm desavouierte jüngst in der «Basler Zeitung» die Richtigstellung des Historikers Georg Kreis, dass Marignano nicht den Beginn der Neutralitätspolitik markiere. Roger Köppel monierte in der «Weltwoche», dass sich universitär verankerte Historiker «über die überlieferte Geschichte hinwegsetzen». Und der historische Laie Christoph Blocher schreckte auf einer Podiumsdiskussion mit dem Historiker Thomas Maissen nicht davor zurück, die aktuelle europäische Grosswetterlage als ebenso «gefährliche Zeit» wie den Zweiten Weltkrieg zu bezeichnen.
Der politisch motivierte Versuch rechtskonservativer Kreise, sich der Deutungshoheit über die Geschichte zu bemächtigen, verdeutlicht eines: In deren Augen kann die Geschichtswissenschaft keine erkenntnismässige, keine epistemische Autorität erheben. Eine Unterstellung, die für die freie Schweizer Historiografie Gefahren birgt.
Feyerabends Erkenntnis
Ähnliches hatten wir schon einmal: In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erregte der österreichische Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend mit seinen Büchern «Wider den Methodenzwang» (1976) und «Erkenntnis für freie Menschen» (1979) Aufsehen. Darin richtete er sich gegen die vorherrschende Wissenschaftstheorie, den Kritischen Rationalismus. Dieser bezeichnet die erkenntnistheoretische Forderung, wissenschaftliche Erkenntnisse nach Massstäben und Regeln der Vernunft zu beurteilen. Gemäss Feyerabend ist die Krux dieser Position, dass sie nicht mit der wissenschaftlichen Praxis vereinbar ist. Vielmehr habe die Wissenschaftsgeschichte gezeigt, «dass berühmte Episoden in den Wissenschaften, die von Wissenschaftlern, Philosophen und Laien mit gleicher Hingebung bewundert werden, nicht rational sind». Galileo Galileis Verteidigung des kopernikanischen Weltbilds beispielsweise war laut Feyerabend im Vergleich zu den geistlichen Einwänden nach damaligem Verständnis höchst irrational. Und dennoch bewahrheitete sich der Heliozentrismus. Erhöbe man also die Ratio zur urteilenden Instanz über wissenschaftliche Arbeit, würde man deren Potenzial zur Generierung von Erkenntnissen zu weiten Teilen beschneiden. Der wissenschaftlichen Freiheit zuliebe müssten sich die Kritischen Rationalisten daher aus dem Alltagsbetrieb der Wissenschaften heraushalten und diese weiterhin auf den verschlungenen, bisweilen «irrationalen» Pfaden der Erkenntnis wandeln lassen.
ProfessorInnen am Pranger
Paul Feyerabends Position war symptomatisch für postmoderne Entwicklungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Es wurde mit verstaubten Traditionen gebrochen, die allein die Vernunft des weissen Mannes anpriesen. Nicht zuletzt dank solcher Positionen wurde die Geschichte frei für die Beschäftigung mit aussereuropäischen Traditionen, Geschlechterfragen und solchen Aussenseiterpositionen, die bis dahin in der Wissenschaft als irrational und irrelevant marginalisiert worden waren. Neben vielen anderen steht Feyerabend für jenen Umbruch, der einer ausgegrenzten Mehrheit ihren Platz in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Büchern verschaffte, um im Umkehrschluss mit der Überbewertung eines herrschaftlichen Diskurses über den Fortschritt der Wissenschaften zu brechen.
35 Jahre später feiert der wissenschaftstheoretische Relativismus in der Schweiz unter anderen Vorzeichen seine Wiederauferstehung. So veröffentlichte Philipp Gut 2012 in der «Weltwoche» den Artikel «Vor diesen Professoren wird gewarnt». Er beschuldigte verschiedene ProfessorInnen, «Irrlehren» zu verbreiten. Vor Andrea Maihofer, Professorin für Geschlechterforschung an der Universität Basel, warnt Gut, weil sie «ein zeitgeistiges Modephänomen, das sich wie eine Epidemie ausbreitet» repräsentiere: die Gender Studies. Der Zürcher Staatsrechtler Alain Griffel wird an den Pranger gestellt, weil er im Zuge der Minarettinitiative gefordert hatte, Volksinitiativen vorab auf ihre Verfassungskonformität zu überprüfen.
Guts Angriff zielte darauf ab, den ForscherInnen ihre epistemische Autorität abzusprechen. Begründung: Objektivität sei in den Sozial- und Geisteswissenschaften nicht zu erreichen, da die persönliche politische Haltung unweigerlich die wissenschaftliche Arbeit einfärbe.
Ins gleiche Horn stösst Roger Köppel in der «Weltwoche» vom 2. April dieses Jahres. Sein Leitartikel mit dem Titel «Wucht der Taten, Kraft der Mythen» endet mit einem Abgesang auf die Geschichtswissenschaft: «Auf die Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung sollte man sich ohnehin nicht allzu viel einbilden. Historiker sind keine Physiker. Wie in der Politik dominieren oft persönliche Vorlieben und Interessen.» Was die Geschichtsschreibung jenseits von Jahreszahlen produziere, seien Mythen, deren sich die Politik – von links bis rechts – bedienen könne. Damit erklärt Köppel die Historiografie kurzerhand zum politischen Legitimationsdiskurs, an dem partizipieren kann, wer will – ungeachtet seiner Qualifikationen.
Das ist ein verwässerter Relativismus, der seine Inspiration aus einer Feyerabend-Rezeption zieht, die dessen Wissenschaftstheorie fälschlicherweise unter dem entkontextualisierten Zitat «anything goes» subsumiert. Äusserungen wie, es gebe «keine Erkenntnis, die eine Einheit hinter verwirrendem Detail erfasst, keine Wahrheit, die sich auf eine solche Einheit bezieht» oder «‹Objektivität› ist das Resultat einer erkenntnistheoretischen Kurzsichtigkeit» veranlassten LeserInnen dazu, Feyerabends Position als ein «Alles ist relativ» zu interpretieren. Obschon Feyerabend stets gegen diese Deutung ankämpfte, bedienen sich Gut und Köppel just dieses Diktums. Gut schreibt beispielsweise: «Was vom Katheder als Wahrheit verkündet wird und mit dem Anspruch unverrückbarer Objektivität auftritt, ist so wandelbar wie die Jahreszeiten oder die Länge der Röcke.» Und Köppel: «Es ist nicht so, dass die Berufshistoriker Gralshüter einer objektiven Wahrheit wären.» Um gegen die Sozial- und Geisteswissenschaften zu mobilisieren – entsprechende Vorstösse zur Subventionskürzung hat die SVP mittlerweile lanciert –, wird seitens rechtsbürgerlicher Kreise ein erkenntnismässiger Relativismus in Anschlag gebracht. Reduziert auf einen kruden, populistischen Schatten seiner selbst, dient er als Handlanger rechter Diffamierungsversuche gegen vermeintlich linke Forschung.
Feyerabend schrieb damals gegen eine kleine philosophische Elite an, die mit den von ihr aufgestellten wissenschaftlichen Standards das höchste Gut der Forschung bedrohte: ihre Freiheit. Was diese heute gefährdet, sind Erkenntnis-Anarchisten wie Köppel und Gut, die eine mittlerweile selbst historisch gewordene Wissenschaftsphilosophie ad absurdum führen, um ihr politisches Kapital zu vermehren. Konfrontiert mit einem derart gewendeten Relativismus, muss sich die Historiografie auf ihre wissenschaftlichen Standards berufen. Akademisch tätige HistorikerInnen beschäftigen sich von Berufs wegen mit Geschichtsschreibung. Sie haben sich in einer Ausbildung das Rüstzeug angeeignet, um Geschichte zu schreiben, die im schlechtesten Fall den Standards der Forschergemeinschaft genügt und bestenfalls Erkenntnisse generiert, die unsere Gegenwart in einem neuen Licht erscheinen lassen und für die Zukunft neue Möglichkeitsräume eröffnen. Unabhängig davon, wie öffentlichkeitswirksam einzelne historische Projekte sind: HistorikerInnen sind nicht bloss Mythenschreiber; ähnlich wie die von Köppel als Gegenbild genannten PhysikerInnen haben sie ein Know-how erworben, das sie mit einer epistemischen Autorität versieht.
Anything goes? Mitnichten
Wenn wir in den letzten Jahrzehnten gelernt haben, dass sich zu ein und derselben Entwicklung eine Mehrzahl an Geschichten erzählen lässt, bedeutet dies nicht, dass die einzelnen Geschichten nicht wahr sind. Es bedeutet vielmehr, dass sich eine Entwicklung auf verschiedenen Ebenen abspielt und deshalb aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden muss.
Also «anything goes»? Mitnichten. Und dies wüsste man, wollte man Feyerabend genau lesen. Denn: «Die Beurteilung sowohl der Wissenschaften als ganzer als auch einzelner wissenschaftlicher Ergebnisse muss den Wissenschaftlern selbst überlassen werden: science knows best.»
Fabian Grütter (28) ist Doktorand an der Professur für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich. Er beschäftigt sich mit Schweizer Grafikdesign in den zwanziger und dreissiger Jahren.