Lateinamerika: Die Stunde der zwielichtigen Populisten hat geschlagen

Nr. 23 –

Viele Parteien Lateinamerikas werden wegen Korruption und Vetternwirtschaft abgestraft. Aber wer kommt stattdessen? In Mexiko hat zum ersten Mal ein unabhängiger Kandidat Chancen.

Mexikanische Zeitungen sind in aller Regel keine piekfeinen Blätter. Aber wörtliche Zitate von Jaime Rodríguez wollen sie doch nicht drucken. In seinen Reden hagelt es «Arschficker» und «Fotzen», viele seiner Gegner würde er am liebsten «an den Eiern aufhängen». Und trotzdem hat der vulgärste unter den mexikanischen PolitikerInnen am kommenden Sonntag gute Chancen, Gouverneur des Bundesstaats Nuevo León zu werden. Er wäre der Erste, der als Parteiloser in ein öffentliches Amt gewählt würde. Und selbst wenn er knapp scheitern sollte, hätte Rodríguez immerhin gezeigt, dass der politische Alleinvertretungsanspruch der Parteien nun auch in Mexiko infrage gestellt wird.

Gewählt werden am Sonntag das nationale Parlament, GouverneurInnen von 9 der 31 Bundesstaaten, dazu Regionalparlamente und BürgermeisterInnen in 17 Bundesstaaten. Es ist davon auszugehen, dass im Wesentlichen alles beim Alten bleibt: Die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) von Präsident Enrique Peña Nieto wird wohl die stärkste politische Kraft bleiben. Nur die Wahlbeteiligung wird voraussichtlich weiter sinken. Vor sechs Jahren lag sie bei knapp 45 Prozent, und seither haben alle Parteien genügend Anlass gegeben, sie nicht mehr zu wählen.

Auch die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die 1988 als Abspaltung der korrupt gewordenen Staatspartei PRI eine Hoffnung für die Linke war, ist längst im schmutzigen Sumpf der Mafias und Günstlingswirtschaft untergegangen. José Luis Abarca, der als Bürgermeister von Iguala 43 Studenten an eine Mörderbande ausgeliefert hat, ist nur das bekannteste Beispiel eines korrupten PRD-Politikers.

Jaime Rodríguez spricht deshalb vielen aus dem Herzen, wenn er sagt: «Die alten Parteien sind überflüssig, sie sollten alle verschwinden.» Seine Vergangenheit als Politiker der populistischen Schule der PRI verschweigt der 57-Jährige gerne: Er war für diese Partei zum Bürgermeister von García gewählt worden, einem Teilort von Monterrey, der Hauptstadt von Nuevo León.

Korruption, so weit das Auge reicht

Parteienverdrossenheit ist derzeit endemisch in Lateinamerika. Selbst in Ländern wie Chile, das gemeinhin als stabile Demokratie gilt, sank die Wahlbeteiligung nach der Aufhebung der Wahlpflicht 2011 sofort unter fünfzig Prozent. Würde demnächst an die Urnen gerufen, würde sie – so sagen es Umfragen – noch weiter abrutschen. Sämtliche chilenischen Parteien sind in Korruptionsskandale verwickelt. In der rechten Oppositionspartei UDI ist die halbe Führungsriege über ein ausgeklügeltes Schema illegaler Parteifinanzierung gestolpert. Die sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet musste ihren Innenminister Rodrigo Peñailillo entlassen, weil dieser sich von einem Konzern für Gutachten hatte bezahlen lassen, die er nie geschrieben hatte. Bachelet selbst steht wegen eines windigen Grundstückgeschäfts ihres Sohns in der Kritik.

Dass auch linke Parteien vor Korruption nicht gefeit sind, weiss man spätestens seit den Schmiergeldzahlungen des staatlichen brasilianischen Ölkonzerns Petrobras an die regierende Arbeiterpartei. Bei Demonstrationen wird der Rücktritt von Präsidentin Dilma Rousseff gefordert. Aber was soll das bringen? Die Opposition ist noch viel korrupter.

Wohin man auch schaut: Überall wird geschoben und gegrapscht. Selbst im ruhigen Costa Rica sind schon zwei ehemalige Präsidenten wegen illegaler Bereicherung verurteilt worden: Rafael Ángel Calderón (1990–1994) und Miguel Ángel Rodríguez (1998–2002). In El Salvador sitzt der frühere Präsident Francisco Flores (1999–2004) in Untersuchungshaft, weil er internationale Hilfsgelder für Erdbebenopfer auf sein Privatkonto umleitete. In Guatemala ist eben Vizepräsidentin Roxana Baldetti wegen dringenden Korruptionsverdachts zurückgetreten. Dafür kommt ein alter Bekannter zurück: Alfonso Portillo, Präsident von 2000 bis 2004, später an die USA ausgeliefert und dort wegen Geldwäsche zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Bei der Parlamentswahl im September ist er Spitzenkandidat der neuen Partei Todos.

Ins Präsidentenamt gewählt worden war Alfonso Portillo für die Guatemaltekische Republikanische Front. Doch diese wird heute von Zury Ríos Sosa, der Tochter des Parteigründers und ehemaligen Diktators Efraín Ríos Montt, für sich beansprucht. Parteien vertreten in Lateinamerika in der Regel kein Programm, sie sind nur Wahlvereine für ihr Führungspersonal, und Ríos Sosa will Präsidentin werden.

Einzig die Linksparteien waren lange die Ausnahme von dieser Regel – bis Daniel Ortega in Nicaragua die Sandinistische Partei ganz auf sich zuschnitt. Hugo Chávez machte es ihm in Venezuela zunächst mit seiner Bewegung Fünfte Republik, dann mit der Sozialistischen Einheitspartei nach.

Eliten wählten sich selbst

Westeuropäische Demokratieformen wurden in Lateinamerika zwar formal adoptiert, sind jedoch bis heute kaum mehr als eine Fassade für das aus der spanischen Kolonialherrschaft herübergerettete Oligarchensystem: Eine kleine Gruppe einflussreicher Familien teilt den Staat und sein Vermögen unter sich auf. So gut wie jedes Land hat deshalb seine Familiendynastien mit Präsidenten in mehreren Generationen, von Kolumbien (die Familie Santos) bis Chile (die Familien Alessandri oder Frei).

Bis weit über die Mitte des vergangenen Jahrhunderts waren vielerorts das Beherrschen der spanischen Sprache in Wort und Schrift und ein Minimum an Besitz Voraussetzung für das Wahlrecht: Die Eliten wählten sich selbst.

Heute gilt überall in Lateinamerika das allgemeine Wahlrecht, und frustrierte WählerInnen haben die Möglichkeit, die gesamte politische Klasse zu verjagen: «¡Que se vayan todos!» – «Alle sollen verschwinden!». Das war der Schlachtruf der ArgentinierInnen Ende 2001, als korrupte neoliberale Regierungen das Land in den Staatsbankrott getrieben hatten. In nur zwei Wochen zwangen Strassenproteste fünf Präsidenten hintereinander zum Rücktritt. Alle sind sie gegangen, und es kam Nestor Kirchner, ein kleiner, in Buenos Aires fast unbekannter Gouverneur ganz aus dem Süden, aus Patagonien, gewählt mit gerade 22 Prozent der abgegebenen Stimmen. Kirchner war ein Glücksfall. Zwar hat auch er zusammen mit seiner Frau Cristina Fernández eine kleine Familiendynastie geschaffen. Aber es gelang ihm, Argentinien aus der Krise zu führen.

Andere Länder hatten da weniger Glück: Als die EcuadorianerInnen ihre traditionelle Politklasse verjagt hatten, wählten sie in ihrer Verzweiflung 1996 Abdalá Bucaram, einen feurigen Populisten. Statt zu regieren, produzierte Bucaram sich im Amt dann lieber als Schlagersänger mit jungen Frauen im Bikini als Chor. Er wurde wegen Unzurechnungsfähigkeit abgesetzt.

In Peru wurde aus der verbreiteten Frustration über die politische Klasse 1990 der schüchterne Landwirtschaftsprofessor Alberto Fujimori an die Macht gewählt. Seine Geschichte ist bekannt: Er sitzt heute wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Korruption in Haft. «¡Que se vayan todos!» – das ist in Lateinamerika immer auch eine Chance für zwielichtige Populisten. Jaime Rodríguez in Nuevo León weiss das und will diese Chance am Sonntag nutzen. Sollte Rodríguez erfolgreich sein, wäre das ein fatales Signal für Mexiko.