Wahlen in Guatemala: Wenn kriminelle Eliten den Staat beherrschen

Nr. 25 –

Bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl am 25. Juni wird sich nichts ändern: Die einzige Kandidatin, die Korruption und Straffreiheit ein Ende bereiten wollte, wurde ausgeschlossen.

Der derzeitige Bestseller auf dem guatemaltekischen Büchermarkt ist ein Schurkenroman des einheimischen Schriftstellers Francisco Pérez de Antón, dessen Titel sich sinngemäss so übersetzen lässt: «Wie man einen Präsidenten ohne Fehl und Tadel korrumpiert». Es ist die Geschichte eines aufrichtigen jungen Politikers, der überraschend zum Präsidenten des Landes gewählt wird und der sich vorgenommen hat, Korruption und Geldwäsche zu bekämpfen. Sein eigener Vizepräsident und alle seine Minister:innen aber versuchen, ihn kaltzustellen. Sie wollen Guatemala zu einer noch grösseren Waschanlage für Drogen- und sonstige kriminell erworbene Gelder machen, als es das Land ohnehin schon ist. Doch der Präsident bleibt zunächst standhaft. Also plant seine Entourage einen Mordanschlag auf ihn, um so den durch und durch korrupten Vizepräsidenten an die Macht zu bringen.

Wenn am 25. Juni in Guatemala ein neuer Präsident oder – es wäre das erste Mal – eine Präsidentin gewählt wird, ist ein solches Szenario nicht zu befürchten. Unter den zwanzig Kandidat:innen ist niemand, der den Interessen der korrupten Elite im Weg stehen könnte. Die einzige Kandidatin, die sich das vorgenommen hatte, wurde kurzerhand von der Wahl ausgeschlossen. Sie habe versäumt, eine amtliche Bescheinigung darüber vorzulegen, dass es keine juristischen Ermittlungen gegen sie gebe, argumentierte die Wahlbehörde. Dabei sieht die Verfassung eine solche Bescheinigung gar nicht vor, und tatsächlich werden rechte Kandidat:innen zur Wahl zugelassen, obwohl die Staatsanwaltschaft gegen sie vorgeht. «Die Korrupten laufen frei herum, und den Ehrlichen werden die Hände gebunden», sagte die verhinderte Kandidatin Thelma Cabrera nach ihrem Ausschluss von der Wahl.

Die 52-Jährige von der Partei «Bewegung zur Befreiung der Völker» hätte die Bevölkerungsmehrheit des Landes repräsentiert. Gut die Hälfte der Guatemaltek:innen sind Indígena; Cabrera gehört zur Maya-Ethnie der Mam. Der Begriff «Völker» im Namen ihrer Partei meint genau diese Mehrheit: die Ethnien, die schon da waren, bevor die weissen Eroberer aus Europa kamen, und die seither von diesen Weissen unterdrückt werden. Die meisten Nachkommen der Ureinwohner:innen leben in Armut, mehrheitlich im Bergland in Hütten aus Lehmziegeln und Wellblechdächern auf einem Fleckchen Land, das sie mehr schlecht als recht ernährt. Sechzig Prozent ihrer Kinder sind chronisch unterernährt. In den Städten sieht man Maya meist nur als Dienstbotinnen, Wachmänner, Schuhputzerinnen oder Bettler – und in touristischen Gegenden die Frauen als farbenfroh gekleidetes folkloristisches Beiwerk für Fotos.

Guatemala-Stadt ist in 25 Zonen eingeteilt, und die Zone 10 ist die Geschäfts- und Ausgehzone. Wegen zahlreicher bewaffneter privater Wachmänner gilt sie auch nachts als sicher. Hier wechseln sich Hotels, Discos und Shoppingmalls mit Restaurants und Boutiquen voller europäischer Edelmarken ab. In jedem Häuserblock steht mindestens ein funkelnagelneues Hochhaus mit zwanzig oder dreissig Stockwerken, in dem sich meist eine Bank befindet. Auf die Frage, wieso ein Land, das im Wesentlichen Zucker, Bananen, Kaffee und Palmöl exportiert, so viele Bürosilos braucht, genügt als Antwort ein Hinweis: Es ist bekannt, dass fast überall in Lateinamerika die Bauindustrie zu den beliebtesten Waschanlagen für Drogengelder gehört. Das Betreiben solcher Anlagen ist in der Oberschicht Guatemalas nicht umstritten.

Eine politisierte Wahlbehörde

Da ist zum Beispiel Manuel Baldizón, seit zwei Jahrzehnten eine prominente Figur der politischen Elite. Er war viele Jahre Parlamentsabgeordneter, zweimal Präsidentschaftskandidat und stand immer unter dem Verdacht, Drogengelder zu waschen. 2018 wurde er deshalb in den USA zu vier Jahren Haft verurteilt und im vergangenen Jahr für weitere Prozesse nach Guatemala ausgeliefert. Seit er eine Kaution hinterlegt hat, ist er auf freiem Fuss und bewirbt sich nun wieder fürs Parlament, das ebenfalls am 25. Juni neu gewählt wird. Sollte er einen Platz ergattern, wird er strafrechtliche Immunität geniessen.

Die Präsidentschaftswahl wird an diesem Tag aller Voraussicht nach nicht entschieden werden. Zury Ríos, meist Spitzenreiterin in den Umfragen, wird nur um die zwanzig Prozent erreichen – zur direkten Wahl sind mindestens fünfzig Prozent plus eine Stimme nötig. Ríos dürfte, wenn die Wahlbehörde die Verfassung ernst nehmen würde, überhaupt nicht antreten. Denn Angehörigen von Putschisten bis in den vierten Verwandtschaftsgrad ist eine Bewerbung ums höchste Staatsamt eigentlich verboten. Und Zury Ríos ist die Tochter von General Efraín Ríos Montt, der sich 1982 an die Macht geputscht und einen Völkermord an den Maya angeordnet hatte, weil er die Indigenen für Unterstützer:innen der damaligen Guerilla hielt. Dennoch wurde ihre Kandidatur von der Wahlbehörde nicht infrage gestellt.

Zwei weitere eher zwielichtige Figuren werden sich voraussichtlich mit Ríos um den Einzug in die Stichwahl, die am 20. August stattfinden soll, streiten. Da ist zum einen Edmond Mulet, der schon seit bald fünfzig Jahren zum politischen Establishment Guatemalas gehört. Er war schon in einem halben Dutzend Parteien Mitglied und gründete für diese Wahl eine neue. Er taufte sie Cabal, was so viel heisst wie «genau». Über ihr Programm ist kaum etwas zu erfahren. Mulet sagt, er sei ein Mann der politischen Mitte, ist aber strikt gegen die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen und noch mehr gegen Schwangerschaftsabbrüche. Auch die Dritte in der in Umfragen ermittelten Spitzengruppe ist eine alte Bekannte: Sandra Torres haften Korruptionsvorwürfe an, seit sie als Gattin des ehemaligen Präsidenten Álvaro Colom (2008–2012) für dessen Sozialprogramme zuständig war. Sie hatte sich schon 2015 und 2019 um das Präsidentenamt beworben, unterlag aber beide Male in der Stichwahl.

Den eigenen Mord bestellt

Der im Januar verstorbene Colom war der letzte Präsident Guatemalas, der nur gerade in einen einzigen kleinen Korruptionsskandal verwickelt war. Er erwies dem Land einen grossen Dienst, indem er das Mandat einer Gruppe internationaler Staatsanwält:innen und Kriminalist:innen, die sein Vorgänger Óscar Berger ins Land geholt hatte, erheblich ausweitete. Deren Kürzel, Cicig, steht für «Internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala», und seit der Mandatserweiterung durch Colom konnte sie selbst gegen amtierende Präsidenten vorgehen. Sie rettete Colom in einem Fall, der wie kein anderer zeigt, wie pervers die politische Elite des Landes ist, den Kopf.

Am 10. Mai 2009 wurde der prominente rechte Politiker und Wirtschaftsanwalt Rodrigo Rosenberg auf offener Strasse in Guatemala-Stadt erschossen. In der Nacht danach bekamen alle wichtigen Medien des Landes ein Video zugespielt, in dem Rosenberg – gewissermassen aus dem Jenseits – mit ernster Miene verkündete: Sollte er ermordet werden, sei Colom der Auftraggeber gewesen. Bei Massendemonstrationen wurde der Rücktritt des Präsidenten gefordert. Doch dann fanden die Ermittler:innen von Cicig heraus, dass Rosenberg seinen Mörder selbst angeheuert hatte. Rosenberg hatte Kummer. Er konnte den Tod einer Geliebten, mit der er nie eine Beziehung hatte leben können, weil sie verheiratet war, nicht verwinden. Seinen Selbstmord durch die Hand eines bezahlten Killers aber nutzte er noch für ein politisches Ränkespiel.

Coloms Nachfolger, Otto Pérez Molina, wurde von Cicig direkt aus dem Amt hinter Gitter gebracht. Die internationalen Jurist:innen wiesen ihm nach, dass er und seine Vizepräsidentin, Roxana Baldetti, nur deshalb eine Partei gegründet hatten und in die Politik gegangen waren, um in den Präsidentenpalast zu kommen und von dort aus den Staat nach Strich und Faden auszunehmen. Die Beweise waren so erdrückend, dass das Parlament die Immunität von Pérez Molina aufhob. Am Tag darauf wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Er trat zurück und kam ins Gefängnis. Dort ist er noch immer.

Sein Nachfolger wurde Jimmy Morales, ein Fernsehkomödiant, der Wahlkampf mit dem Slogan «Kein Dieb und auch nicht korrupt» machte. Aber er war beides, wie die Ermittler:innen von Cicig herausfanden. Morales beendete deshalb im September 2019 das Mandat der internationalen Jurist:innen und Kriminalist:innen und warf sie aus dem Land. Um seine Entschlossenheit zu zeigen, liess er Panzer vor ihrem Büro auffahren. Noch immer sind fünf Korruptionsverfahren gegen ihn anhängig. Morales rettete sich, weil ehemalige Präsidenten automatisch Mitglieder des zentralamerikanischen Parlaments werden. Das Gremium ist zwar weitgehend bedeutungslos, seine Mitglieder geniessen aber strafrechtliche Immunität.

Auch der derzeitige Präsident, Alejandro Giammattei, müsste eigentlich im Gefängnis sitzen. Die Ermittler:innen von Cicig hatten herausgefunden, dass er 2006 in seiner Eigenschaft als Chef des nationalen Gefängniswesens gemeinsam mit dem damaligen Polizeichef Erwin Sperisen den Mord an sieben Häftlingen angeordnet hatte. Der guatemaltekisch-schweizerische Doppelbürger Sperisen floh damals vor den Ermittler:innen in die Heimat seiner Vorfahr:innen, wurde in der Schweiz aber wegen Beihilfe zu siebenfachem Mord zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Giammattei schlüpfte zunächst in der Botschaft von Honduras in Guatemala-Stadt unter und nutzte von dort aus seine Kontakte zur korrupten Justiz. Als alles geregelt war, stellte er sich den Behörden und kam kurz in Untersuchungshaft. Dann wurde das Verfahren gegen ihn aus Mangel an Beweisen eingestellt.

Jagd auf Vertreter:innen der Justiz

Heute geht Giammattei gegen alle vor, die dieses System der Straffreiheit für die Elite infrage stellen. Ganz besonders ist er hinter Staats­anwält:innen her, die gegen korrupte Politiker:innen ermitteln oder ermittelt haben, und gegen Journalist:innen, die Korruptionsskandale aufgedeckt haben. Sein Handlanger dabei ist Rafael Curruchiche, der Chef der Antikorruptionsabteilung der Staatsanwaltschaft. Dieser liess unter anderem den Staatsanwalt Orlando López verhaften, der 2013 als Ankläger am Völkermordverfahren gegen Ríos Montt beteiligt gewesen war. Dreissig weitere Untersuchungsrichter:innen und Staatsanwält:innen sind aus Guatemala geflohen, nachdem Curruchiche Ermittlungen gegen sie aufgenommen hatte.

Selbst gegen Iván Velásquez, den letzten Chef von Cicig, hat Giammatteis Wadenbeisser ein Verfahren angestrengt. Der kolumbianische Jurist sei in seiner Amtszeit «illegal, willkürlich und amtsanmassend» gegen guatemaltekische Spitzenpolitiker:innen vorgegangen. Velásquez reagierte gelassen: «Wir kennen das Monster, wir haben es aus der Nähe betrachtet, und wir haben es bekämpft.»

Eine Tageszeitung, die mindestens so viele Korruptionsskandale der Elite aufgedeckt hatte wie Cicig, gibt es seit dem 16. Mai nicht mehr. «El Periódico» war 1996 von einer Gruppe von Journalist:innen gegründet worden, die nicht mehr den Interessen der Eliten und deren Medien dienen wollten. Sie taten, was Journalist:innen tun sollten: den Mächtigen auf die Finger schauen. Und weil sich die politische und die wirtschaftliche Elite in Guatemala überschneiden, bekam die neue Zeitung nie genügend Anzeigen und überlebte stets nur auf der Basis von Schenkungen.

Rubén Zamora, ihr Chefredaktor von Anfang an, bekam nicht nur Todesdrohungen. Einmal wurde der Wagen, in dem er fuhr, von einem anderen von der Strasse abgedrängt. Ein anderes Mal wurden er und seine Familie als Geiseln genommen, er wurde entführt, zusammengeschlagen und bewusstlos auf eine Landstrasse geworfen. Seit fast einem Jahr sitzt er in Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm in einem absurd konstruierten Fall Geldwäsche vor. Viele seiner Kolleg:innen von «El Periódico» sind ins Exil geflohen. Die bevorstehenden Abstimmungen werden ungestört von dieser kritischen Stimme über die Bühne gehen.

Egal wie diese Wahl enden wird – das Ergebnis wird an den Zuständen in Guatemala nichts ändern. Es gibt keine Hoffnung – in der Wirklichkeit nicht und nicht einmal in der Fiktion. Im Bestseller von Pérez de Antón überlebt der Präsident zwar mit viel Glück den Mordanschlag. Aber er bedient sich danach derselben Methoden wie seine Rival:innen. Und alles nur, um an der Macht zu bleiben. Manchmal erinnert er sich noch an den Hoffnungsträger, der er selbst einmal war, und an seinen kurz gefassten Regierungsplan: «Im Grunde ist es sehr einfach: Man muss nur das politische System neu ordnen und es von den Mafias befreien, die es erwürgen; und dies, ohne dabei zu sterben.» So einfach ist das nicht.

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