Lateinamerika: Feudale Demokratien, immer gut geschmiert

Nr. 23 –

Warum die WählerInnen vieler lateinamerikanischer Staaten bereit sind, korrupte Parteien an die Macht zu bringen. Ein Erklärungsversuch.

Auch die jüngeren MexikanerInnen müssten es eigentlich wissen, selbst wenn sie nur eine vage Erinnerung an die letzte Zeit der 71 Jahre währenden Herrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) haben: Diese Partei ist durch und durch korrupt. Man wird immer wieder daran erinnert, auch jetzt, im Wahlkampf um die Präsidentschaft. Ende Mai wurde Tomás Yarrington, ehemals Gouverneur des Teilstaats Tamaulipas, aus dem PRI ausgeschlossen, weil er sieben Millionen Franken Schmiergeld von Drogenkartellen eingesteckt hatte. Letzten Dezember musste Parteichef Humberto Moreira zurücktreten, weil er als Gouverneur von Coahuila 2,4 Milliarden Franken mit gefälschten Rechnungen belegt hatte. Trotzdem scheinen die MexikanerInnen entschlossen, am 1. Juli ebendiesen PRI nach zwölf Jahren in der Opposition zurück an die Macht zu wählen. Korruption, so scheint es, ist so selbstverständlich, dass sie keine Rolle bei der Wahlentscheidung spielt.

Das Phänomen ist keineswegs auf Mexiko begrenzt und lässt sich auch nicht nach dem politischen Links-rechts-Schema verorten. So ist heute bekannt, dass Chiles ehemaliger Diktator Augusto Pinochet nicht nur grausam war, sondern sich auch selbst bereichert hat; genauso wie Guatemalas ehemaliger rechter Präsident Alfonso Portillo. Das Venezuela des Linkspopulisten Hugo Chávez wird im Korruptionsranking von Transparency International auf Platz 172 (von 182 Ländern) geführt, Brasiliens gemässigt linke Präsidentin Dilma Rousseff hat innerhalb nur eines Jahres sieben ihrer Minister wegen Korruptionsvorwürfen entlassen.

Auch die Regierung von Rousseffs beliebtem Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva war nicht frei von dieser Plage. Lula musste 2005 seinen Kabinettschef José Dirceu in die Wüste schicken: Dirceu hatte mit Schwarzgeld im Parlament die nötigen Stimmen zusammengekauft, um die rechtliche Grundlage für Lulas Sozialpolitik zu schaffen. Anders gesagt: Ohne Korruption hätten wohl vierzig Millionen BrasilianerInnen in den acht Jahren von Lulas Regierung die Armut nicht überwinden können.

Ein Job für alle FreundInnen

Korruption ist das Schmiermittel lateinamerikanischer Politik. Das hat tiefe historische Wurzeln. Die Region ist bis heute vom spanischen Vorbild geprägt. Die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht vor 200 Jahren war die Unabhängigkeit der KolonisatorInnen von ihrer Mutter, nicht die der UreinwohnerInnen von den EroberInnen. Die spanischstämmige Oligarchie hat das bestehende Sozial- und Wirtschaftsmodell einfach auf die neuen Staaten übertragen: Der Patrón, der auf seiner Hacienda alles bestimmt, ist das Vorbild heutiger Präsidialdemokratien; das Volk kuscht und bekommt die Brosamen ab.

So nennt man bis heute in Lateinamerika RegierungsfunktionärInnen nicht etwa «öffentliche Bedienstete» – also DienerInnen des Gemeinwohls – sondern «Autoridades»: Es sind diejenigen, die selbstherrlich bestimmen. Bei einem Regierungswechsel tauschen PräsidentInnen nicht nur die MinisterInnen und hohen politischen BeamtInnen aus, sondern alle Angestellten – bis hinunter zur Briefträgerin und zum Müllmann. Dieses System der Klientelpolitik ist weit verbreitet, sodass selbst weit entfernte ParteifreundInnen der Gewählten einen Anspruch auf einen Staatsjob zu haben glauben.

Nur ein Präsident hat in den vergangenen Jahren versucht, dieses ungeschriebene Gesetz zu brechen: Ernesto Pérez Balladares, 1994 in Panama für die Partei der demokratischen Revolution gewählt, wollte bei seinem Amtsantritt tatsächlich nur die höchsten FunktionärInnen austauschen. Er verbrachte seine ersten Wochen in einem belagerten Präsidentenpalast: Tausende seiner ParteifreundInnen klagten ihr «Recht» auf einen Regierungsjob ein.

Es ist zudem längst üblich geworden, dass die Gattinnen von Präsidenten zu Ministerinnen ernannt werden (etwa in Guatemala bis Anfang dieses Jahres und aktuell in El Salvador und Nicaragua) und dass sie Nachfolgerinnen des Ehemanns im höchsten Staatsamt werden (wie in Argentinien) oder das zumindest versuchen (wie in Guatemala und Honduras). Kaum jemand in Lateinamerika stört sich daran.

Straffreiheit als Fundament

Und auch ein anderes, noch schlimmeres Erbe kam aus Spanien: So, wie die Franco-Diktatur Vorbild der lateinamerikanischen Militärregimes der sechziger bis achtziger Jahre war, diente auch danach der in Madrid ausgehandelte Übergang zur Demokratie als Blaupause auf der anderen Seite des Atlantiks. Wie in Spanien wurde auch hier kein Scherge der Diktatur wegen Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen. Die Demokratie bekam als Fundament das Unrechtssystem der Straffreiheit. Im demokratischen Spanien wurde noch Anfang 2012 der Untersuchungsrichter Baltasar Garzón mit Berufsverbot bestraft, weil er angeordnet hatte, Massengräber aus der Zeit der Franco-Diktatur zu öffnen.

Dass Argentinien, Chile und ein bisschen auch Guatemala Jahrzehnte später doch noch mit der Aufarbeitung ihrer dunklen Geschichte begannen, lässt zumindest hoffen. Die drei Länder sind jedoch die Ausnahme. In der Regel sind die Massenmörder von gestern bis heute angesehene und einflussreiche Politiker oder Wirtschaftsbosse.

Wer bereit ist, über Mord und Totschlag hinwegzusehen, und dies auch noch einen geordneten Übergang zur Demokratie nennt, kann sich über ein paar unterschlagene Millionen nicht aufregen. Das zugrunde liegende System der Straffreiheit ist nicht nur die Voraussetzung für eine Vergangenheitsamnesie, sondern auch für die Korruption.

In der Hacienda war der Patrón an kein Gesetz gebunden – er war das Gesetz, die «Autoridad». Dasselbe Modell findet sich bis heute in den Präsidialverfassungen Lateinamerikas, im Selbstverständnis der PräsidentInnen und in der politischen Kultur. Eine Gewaltenteilung ist, wenn überhaupt, nur rudimentär vorhanden. Die Staaten sind zwar formale Demokratien, die Regierungen werden gewählt. Republiken im Sinne einer Res publica, in denen der Staat das Gemeingut aller ist, sind sie aber noch lange nicht. Lateinamerikanische Staaten sind am ehesten so etwas wie Feudaldemokratien, in denen die FeudalherrInnen zwar gewählt werden, danach aber das Land als ihr Eigentum verwalten. Was in einer Republik Korruption genannt wird, ist in dieser lateinamerikanischen Staatsform eine Selbstverständlichkeit. Warum also nicht eine korrupte Partei wählen?

Mexiko wählt

In den aktuellen Umfragen zur Präsidentschaftswahl vom 1. Juli führt Enrique Peña Nieto (PRI) mit rund 45 Prozent Zustimmung. Ihm selbst hängt kein Korruptionsskandal an, seine Partei aber hat eine endlose Geschichte damit.

Zweitplatzierter mit einem Abstand von knapp zwanzig Prozentpunkten ist der Linkspopulist Andrés Manuel López Obrador (PRD). Er gilt als nicht korrupt.

Knapp dahinter liegt Josefina Vázquez Mota von der regierenden konservativen PAN. Die Partei hat 2000 die PRI von der Macht abgelöst, dabei aber deren System der Klientelpolitik übernommen.

Der oder die KandidatIn mit den meisten Stimmen wird PräsidentIn, eine Stichwahl ist nicht vorgesehen.