Präimplantationsdiagnostik: Der Unsinn vom geringeren Leid

Nr. 24 –

Ich habe einmal auf einer Reha-Messe einen Rollstuhl ausprobiert, der mich auf gleiche Augenhöhe mit Menschen auf zwei Beinen gehoben hat. Es war wie Fliegenkönnen.

Im tiefen Wasser kann ich gehen. Mein Körper reagiert darauf, als sei ich frisch verliebt.

Wer die Wahl hat, verzichtet lieber aufs Rollstuhlfahren. Zugleich habe ich null Bock, unentwegt zu versichern, dass ich gern lebe. Bisher war es der Mühe wert. Unbedingt.

Fast jede und jeder fängt wie ich irgendwann an zu gestalten, was zur Verfügung steht, jeder Mensch gibt sich selbst Antworten auf die existenzielle Frage, worauf es für sie oder ihn im Leben ankommt. Daher erscheint es mir problematisch, über andere Menschen zu sagen, sie wären besser nicht geboren worden – wer bin ich, um zu bewerten, was sie aus ihrem Leben machen?

Was hat das nun alles mit der Abstimmung zur Präimplantationsdiagnostik (PID) zu tun? Alles. Mich hätte damals erst die Pränataldiagnostik (während der Schwangerschaft) erwischt, wenn es sie bereits gegeben hätte, und nicht schon die Präimplantationsdiagnostik (vor der Schwangerschaft). Es ergibt nicht viel Sinn, gegen die PID zu stimmen, wenn Pränataldiagnostik erlaubt ist.

Entscheidend dafür ist nicht das quantitative Argument, dass nur ein Bruchteil aller Paare, die Eltern werden wollen, auf PID zurückgreifen werden. Die Menge der Betroffenen allein kann ethisch nicht ausschlaggebend sein, wenn der Grundsatz gilt, dass jeder Mensch Zweck ist, nicht Mittel zum Zweck.

Ethisch äusserst problematisch ist es auch, bei Entscheidungen über menschliches Leben mit der Menge des Glücks zu argumentieren. Wer misst das? Eine Gesellschaft mit weniger behinderten Menschen gleichzusetzen mit einer Gesellschaft mit weniger Leiden, ist Unsinn. Leiden wie Glück werden subjektiv erlebt. Ist denn nicht behindertes Leben glücklicheres Leben? Was für eine gefährliche Illusion!

Ein Paar entwickelt seine Entscheidung für oder gegen ein behindertes Kind nicht auf einer Insel, sondern in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Es lohnt sich, diesen Zusammenhang möglichst gerecht zu gestalten – möglichst niemanden auszugrenzen. Ob innerhalb eines solchen gerechten Rahmens dann ein Leben gelingt, ist eine ganz andere Frage.

Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik entfernen intime, persönliche Entscheidungen nicht nur vom Körper der Frau, sondern auch aus der Privatsphäre des Paares in eine Expertokratie, in der die Entscheidung der potenziellen Eltern erheblichen Beeinflussungen ausgesetzt ist.

Im übelsten Fall spielt die Idee eine Rolle, dass ein behindertes Kind zu verhindern gewesen wäre. Diese Idee beruht auf einer Illusion von Machbarkeit, da niemand verhindern kann, dass das Kind einen Unfall erleidet oder eine Behinderung unter der Geburt erwirbt. Aber wer möchte darauf vertrauen, dass nicht die bürgerliche Sparwut, die sich schon heute äusserst aggressiv gegen gesellschaftliche Solidarstrukturen richtet, in naher Zukunft ein behindertes Kind zum finanziellen Privatproblem erklärt?

Letztlich ist eine Frau oder ein Paar allein in der Entscheidungssituation für oder gegen Präimplantationsdiagnostik, für oder gegen Pränataldiagnostik. Sie sind auf Information durch die ExpertInnen angewiesen. Aber sie sind Menschen, die ein Gewissen haben und denen eine verantwortete Entscheidung zugetraut werden kann.

Die moralische Keule ist in einem Schwangerschaftskonflikt fehl am Platz. Auch wenn ein Kind wahrscheinlich behindert zur Welt kommt, geht keine Frau zur Abtreibung, wie sie zur Coiffeuse geht. Dass eine Frau im Vorfeld einer Schwangerschaft keine Präimplantationsdiagnostik machen darf, dann aber die Schwangerschaft abbrechen kann, geht körperlich und psychisch auf ihre Kosten. Wer will einer Frau per Gesetz die Schwangerschaft und die Entscheidung über Abbruch verordnen, wenn Pränataldiagnostik erlaubt ist, nur PID verboten?

Es gibt keine einfachen Antworten. Mit den technischen Möglichkeiten sind unsere individuellen Bewältigungsfertigkeiten nicht gewachsen, noch weniger die kollektiven.

Dorothee Wilhelm ist Theologin und Psychologin.