Kunst und Konflikt: Wenn die Widersprüche mitreisen

Nr. 25 –

Engagiert zwischen Zuversicht und Zweifel: Die Schweizer Stiftung Artasfoundation zeigt, wie Kunst bei humanitärer Hilfe eine Rolle spielen kann und wo sie dabei an Grenzen stösst.

Austausch mit Hürden: Workshop mit Basler Beteiligung im abchasischen Suchum. Foto: Dagmar Reichert

Es sind Menschen aus 26 verschiedenen Ländern da. Der grosse Hörsaal im Erdgeschoss des Toni-Areals, wo sich die KunststudentInnen Zürichs tummeln, ist voll besetzt. Am RednerInnenpult steht Dagmar Reichert und eröffnet die Tagung zum Thema «Art in Conflict». Reichert hat 2011 die «Artasfoundation for Peace» gegründet, eine unabhängige und unparteiliche Stiftung für Kunst in Konfliktregionen. Grundgedanke ist, die traditionelle humanitäre Hilfe mit Kunst als Mittel zum Wiederaufbau zu ergänzen – Gemeinschaftssinn, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und kulturelle Strukturen sollen wieder wachsen können. Am Anfang stand der gar nicht so bescheidene Anspruch, ein Schweizer Kompetenzzentrum für Kunst im Kontext von Friedensprozessen zu schaffen. Im letzten Jahr hat die Stiftung trotz knappen Budgets acht Projekte realisieren können.

Die meisten TeilnehmerInnen der Tagung in Zürich engagieren sich mit ähnlichen Ansätzen und Zielen. Im Rahmen der dreitägigen Veranstaltung können sie ihre eigenen Projekte vorstellen, sich vernetzen und austauschen. Austauschen darüber, wie sie mit Kunstprojekten, mit Theaterworkshops, Musikschulen oder Plattformen zumindest einzelne Lebensbereiche für Menschen in armen oder kriegsbetroffenen Gebieten verändern können.

Reichert findet bei der Begrüssungsrede optimistische und motivierende Worte. Aber sie bringt auch Zweifel auf den Tisch. Und sie thematisiert Widersprüche, auf die alle irgendwann stossen, die im weitesten Sinne im Bereich Kunst im Wiederaufbau aktiv sind: «Wir versuchen, eine Kollaboration auf Augenhöhe mit den lokalen Partnern zu erreichen, während wir gleichzeitig Privilegien wie Geld und Bewegungsfreiheit nutzen, um die Rahmenbedingungen für diese Kollaboration festzulegen.» Natürlich wisse man, dass der Ursprung vieler Konflikte des Südens im Norden liege. Konsequenterweise müsste soziale Transformation auch im Norden beginnen. «Wir wissen das, und doch sprechen wir weiter über soziale Transformationen im Süden.» Und selbst dass sie diese Überlegungen so offenlegt, reflektiert Reichert nochmals: Hat sie das nur gesagt, um sich gleich «gegen Kritik zu immunisieren»? Wollte sie nur klarstellen, dass sie daran auch schon gedacht haben? Im Zweifel für den Zweifel.

Ein Motor der Veränderung

Die Universalität der eigenen Werte hinterfragen, eurozentristische Ansichten kritisieren und gleichzeitig die eigenen Werte in anderen Weltregionen weitergeben wollen – solch unauflösbare Widersprüche prägen die Arbeit der Artasfoundation und spielen wohl auch für die TeilnehmerInnen an der Tagung «Art in Conflict» in ihrer eigenen Projektarbeit immer wieder eine Rolle. Wie Dagmar Reichert am Rand der Veranstaltung erklärt, sind Widersprüche und Paradoxe für sie ein Motor der Veränderung, ein Antrieb, um die eigenen Wahrnehmungen und Motive neu zu bewerten. Und sich eine Frage immer wieder neu zu stellen: Dürfen wir das?

Aktiv ist die Artasfoundation bislang vor allem im Südkaukasus. Das ist auch der Verbindung zu Georg Bächler geschuldet, der, mittlerweile als Schweizer Botschafter in Georgien tätig, immer ein grosser Unterstützer der Idee war. Ein Projekt – «Connecting Spaces» – fand letztes Jahr in der Schwarzmeerregion Abchasien statt, im Austausch mit Basel. Abchasien hat sich 1994 nach einem Sezessionskrieg von Georgien losgesagt und sich so der Herrschaft der georgischen Zentralregierung entzogen. Allerdings erkennen weltweit nur Russland, Nicaragua, Venezuela und der Inselkleinstaat Nauru Abchasiens Unabhängigkeit an. Der Konflikt zwischen Georgien und dem De-facto-Staat Abchasien ist ungelöst, gilt als «eingefrorener Konflikt».

Abchasien war in seiner turbulenten Geschichte zwar auch einmal eine eigenständige Unionsrepublik der Sowjetunion. Dennoch werden das Gebiet und seine BewohnerInnen immer wieder von Kämpfen um Macht- und Gebietsansprüche gebeutelt. Die dort ansässigen Menschen ringen mit Armut, mit den materiellen und seelischen Folgen von vergangenen und der Angst vor künftigen gewalttätigen Konflikten. Aufgrund des ungeklärten Rechtsstatus Abchasiens leben sie von der restlichen Welt fast vollständig isoliert.

Interesse und Ratlosigkeit

Genau an diesem Punkt hat die Artasfoundation zusammen mit der Basler Künstlerin Maria Z’Graggen beim Projekt «Connecting Spaces» angesetzt. Sie wollten jungen abchasischen KünstlerInnen die Möglichkeit geben, sich mit Schweizer Kunstschaffenden auszutauschen und so die Isolation zumindest im künstlerischen Schaffen zu durchbrechen. Zusammen mit einer Gruppe Schweizer KunststudentInnen reisten sie für einen zehntägigen Workshop in die Stadt, die auf Abchasisch Suchum und auf Georgisch Suchumi heisst. Dort präsentierten alle KünstlerInnen zunächst aktuelle eigene Arbeiten und entwickelten im Anschluss gemeinsame Projekte.

Um die künstlerische Begegnung zu erleichtern, schlugen die WorkshopleiterInnen offene und unbelastete Themen wie «Hafen» oder «Musik» vor. Es ging weniger darum, einem Konzept zu folgen und so ein konkretes Produkt zu entwickeln, als um den Prozess. Also darum, wie sich die KünstlerInnen aufeinander einlassen und was daraus entstehen könnte. So schloss diesen Teil des Projekts eine gemeinsame Work-in-Progress-Ausstellung vor Ort ab.

Darauf folgte eine Einladung aus Basel an die Kunstschaffenden aus dem Südkaukasus – das Treffen fand schliesslich trotz grosser bürokratischer Hürden statt, die es wegen des schwierigen Status Abchasiens zu überwinden galt. In einer grossen gemeinsamen Ausstellung präsentierten die KünstlerInnen aus Suchum ihre mittlerweile weiterentwickelten Projekte.

Wie der Kunsthistoriker Marcel Bleuler, der für die Artasfoundation tätig ist und «Connecting Spaces» eng begleitet hat, betont, führten die Begegnungen bei allen Beteiligten zu vielen ermutigenden und spannenden Momenten. Beschönigen will er das Projekt trotzdem nicht. Denn das gegenseitige Interesse wurde oft von Ratlosigkeit durchbrochen. Dabei waren bereits die Vorbereitungen von kritischer Selbstreflexion geprägt gewesen – es waren die eigenen Werte, die eigenen Worte, die hier planen und mitreisen würden. Das, so Bleuler, zeigte sich bereits im Bild, das sie sich von den Kunstschaffenden des ehemaligen Ostblocks als zwingend politisch-kritische KünstlerInnen machten. Eine westliche Zuschreibung, die es erst einmal zu überwinden galt.

Dann die Frage nach dem Kunstbegriff: Die meisten der KünstlerInnen aus Suchum setzen auf traditionelle Kunstformen wie Malerei oder Skulptur. Einerseits hatte sie die unbedingte Wirklichkeitsnähe des sozialistischen Realismus geprägt. Andererseits waren sie der russischen Propaganda ohne grosse Alternativen ausgesetzt und vom internationalen Kunstgeschehen quasi abgeschnitten gewesen. Manche von ihnen hatten sich vor dem Workshop noch nie mit Installation als Kunstform auseinandergesetzt, waren aber beispielsweise in klassischen Maltechniken versierter als ihre Schweizer KollegInnen.

Für Letztere stellte sich die Frage: Wie wirkt oder wird man nicht belehrend, wenn man von einem anderen Kunstbegriff geprägt ist, namentlich vom kapitalisierten westlichen Kunstsystem, in dem Kunst und KünstlerInnen oft nur auf ihre Markttauglichkeit hin bewertet werden? Im gegenseitigen Austausch sollten sich alle TeilnehmerInnen wiederholt genau an solchen Fragen reiben.

Gute Absichten

Auch an der Tagung in Zürich wird deutlich, dass neue Aspekte und Schwierigkeiten erst in der Interaktion vor Ort entstehen. Einen wesentlichen Faktor etwa spricht die zu «Art in Conflict» eingeladene Autorin Gillian Slovo an einer Podiumsdiskussion an. Sie erzählt von zwei chinesischen SchriftstellerInnen, die auf die Frage, wie man sie bei ihrer Arbeit unterstützen könne, antworteten: «Lasst uns einfach in Ruhe!»
Ähnliche Momente kennen auch Dagmar Reichert und Marcel Bleuler aus ihren Projekten. Eine Reaktion, die Reichert besonders in Erinnerung geblieben ist, war die des Gemeindevorstehers im georgischen Khurvaleti, der auf die Frage, ob er Interesse an einem Projekt mit ihnen hätte, entgegnete: «Wir können es uns gar nicht leisten, Nein zu sagen.» Viele GemeindebürgerInnen waren zwar begeistert vom Engagement von «ausserhalb» – und doch, so Reichert, hat sie diese Antwort lange beschäftigt. Einfach, weil sie den Machtunterschied so auf den Punkt gebracht hat.

Marcel Bleuler erzählt von einem anderen herausfordernden Moment: vom Auftritt der feministischen Basler Band Les Reines Prochaines bei einem von der Artasfoundation organisierten Kunstfestival im georgischen Ort Tskaltubo. Die Übersetzerin, die dem Publikum die deutschen Texte zugänglich machen sollte, meinte nach dem Auftritt, wenn sie wirklich alles übersetzt hätte und die Leute wüssten, «was das für Frauen sind», dann könnten sie gleich alle einpacken und verschwinden. Dabei war der Auftritt der Reines Prochaines keine absichtlich subversive Grenzüberschreitung.

Es habe ihr schon gefallen, «wie die jungen Frauen auf der Stuhlkante gesessen und gestaunt haben: Was? So darf man auch sein?», sagt Reichert. Doch blieb auch hier die Frage zurück, inwieweit man mit solchen Auftritten und Begegnungen Bedürfnisse erst erschafft – und ob man das überhaupt darf. Zweifel, Optimismus und viele Reibungsflächen bleiben ständige Begleiter ihres Engagements.

«Artasfoundation for Peace» heisst es ja – samt Frieden also, diesem grossen Wort. Und während sich Marcel Bleuler nicht in die Position begeben will, so einen Anspruch zu verfolgen, sagt Dagmar Reichert entschlossen: «Warum sollen immer nur die anderen die grossen Worte in den Mund nehmen? Wir tun das jetzt auch!»