Sachbuch «Der Souveränitätseffekt»: Wo genau hockt die Macht denn nun?

Nr. 25 –

In seinem neuen Buch «Der Souveränitätseffekt» begibt sich der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl auf die historischen Spuren des heutigen Finanzsystems und seiner politischen Dimensionen: Überall ist spekulatives Vermögen mit am Werk.

Seit das Finanzsystem vor rund sieben Jahren am Rand des Zusammenbruchs stand, ist die Geschichte zurück im Spiel. Eine beträchtliche Zahl von Büchern ist seither erschienen, die auf die eine oder andere Weise Ökonomie zurück an Geschichte binden. Die grösste Wirkung entfaltete sicherlich «Das Kapital im 21. Jahrhundert» (2014), Thomas Pikettys historisch-statistischer Bestseller über die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung. Bereits 2010 hatte der Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl in seinem langen Essay «Das Gespenst des Kapitals» die Irrläufe der Märkte auf eine verpasste Säkularisierung zurückgeführt. Seine These: In den Gleichgewichtsmodellen der Wirtschaftswissenschaften würden theologische Denkfiguren gespenstisch wiederkehren, allen voran Gottfried Wilhelm Leibniz’ Idee einer «prästabilierten Harmonie», einer vorherbestimmten Einheit. Diese unfrohe Botschaft hatte ihren Charme und verhalf dem Essay zu einem Überraschungserfolg.

Nun legt Vogl nach. Sein neues Buch «Der Souveränitätseffekt» zielt wiederum auf ein Unbehagen in und an der Ökonomie. Woher dieses rührt, lässt sich anhand der UBS-Rettung im Oktober 2008 illustrieren. Die Mobilisierung eines hohen zweistelligen Milliardenbetrags durch Bund und Nationalbank wird heute entweder als Sündenfall abgebucht, als glückliche Wendung begriffen oder gar mit dem Hinweis abgetan, dass die Aktion unter dem Strich ein gutes Investment war. Abgesehen von der Frage, wem ausser der Kasse des Bundes das genützt hat – unter dem Strich blieben ihr rund 1,2 Milliarden Franken Gewinn –, wird so vor allem verdrängt, wie abenteuerlich der Entscheid aus damaliger Sicht war.

Aufstieg der vierten Gewalt

Vogl widmet sich ebendieser Abenteuerlichkeit. Genauer: Ihn interessiert die Art von Handlungsmacht, die sich über jenes Wochenende und darüber hinaus auch an einigen anderen Orten konzentrierte. Folgt man dem Autor, so handelt es sich um einen «Machttypus, der weder durch politische Strukturen noch durch ökonomische Operationen und Strategien hinreichend beschreibbar» ist. Um ihm dennoch auf die Spur zu kommen, unternimmt Vogl einen «historisch-spekulativen Versuch».

Seinen Anfang nimmt dieses Unternehmen in der Renaissance. An den Messen in Besançon und anderswo bildete sich schon ab dem 16. Jahrhundert ein eigentliches Clearing-System aus, mit dem die gegenseitigen Forderungen, Verbindlichkeiten und Lieferverpflichtungen geregelt wurden. Das brachte Vorteile sowohl für die Bankiers wie auch für die Kriegsunternehmungen der spanischen Krone. In dieser intimen Beziehung zwischen staatlichen Autoritäten und den ökonomischen Agenten des Frühkapitalismus sind bereits die Nuancierungen vorbereitet, die es schliesslich erlauben sollten, im Herzen des Finanzsystems souveräne Enklaven einzurichten.

Dazu kommt es aber erst im frühen 20. Jahrhundert. Noch die Gründung der Bank of England an der Schwelle zum 18. Jahrhundert versteht Vogl als Einrichtung zum Management der gegenseitigen Abhängigkeit von Staat und Kapital. Andererseits war sie auch eine Überwachungsanstalt, die Geldfälschung konsequent verfolgte. War die Bank of England also noch eher eine Gläubigerkooperative, die auf Gedeih und Verderb an das expandierende Empire gebunden war, so wurde mit der Einrichtung der US-Notenbank ab 1913 die «Migration der Souveränitätsreserve» in die Geschäftsbeziehung zwischen Zentralbanken und Finanzwesen eingeleitet. Was Vogl damit meint: Regierungen und Parlamente verloren an Einfluss auf die Geldschöpfung, womit eine eigentliche «vierte Gewalt» entstand.

Hierin wird eine wesentliche Fluchtlinie von Vogls Buch deutlich. Es geht ihm darin nicht nur um eine Vorgeschichte des heutigen Finanzsystems, sondern mehr noch um eine Bestimmung des Politischen in Zeiten des finanziellen Notstands. Während der Politikwissenschaftler Colin Crouch etwas nostalgisch die Postdemokratie diagnostiziert, verweist Vogl auf «parademokratische Organe»: Zentralbanken und ihre Vorläufer haben die Entwicklung demokratischer Gesellschaften von Anfang an flankiert und deren Entscheidungsspielraum zuletzt schlicht verstärkt in die Zange genommen.

Ein «kontinuierlicher Staatsstreich»

Man könnte die Massnahmenkaskade der letzten Krisenjahre auch als ein Durchwursteln begreifen. Im historischen Licht ergibt sich allerdings ein weniger gemütliches Bild. In Agenturen wie Zentralbanken, aber auch in Gremien wie der Troika, in der die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission zusammenarbeiten, oder in Regelwerken wie dem Europäischen Fiskalpakt manifestiert sich laut Joseph Vogl eine Ultima Ratio politischer Selbsterhaltung. Ihre Handlungsweise komme einem «kontinuierlichen Staatsstreich» nahe.

Autor Vogl schreibt von einer «Apokalypse des Machtursprungs», die einhergeht mit fragwürdigen Rechtsgrundlagen, ungeregelten Verfahren und schliesslich einem radikal unsicheren Wissen um die Auswirkungen des Notstandshandelns. Die Aktionen sind von akuten Drucklagen getrieben, Folgen lassen sich allenfalls ad hoc abschätzen, und Beurteilungen werden von den Ereignissen allzu rasch wieder kassiert.

Was also hat es mit dem Souveränitätseffekt im Titel von Vogls Buch auf sich? Das aufdeckerische Versprechen jedenfalls, das darin mitschwingt, dementiert der Autor Stück für Stück. In dieser Weise wagt das Buch eine forcierte Form der Aufklärung, die dem Leser und der Leserin einiges zumutet. «Souverän ist», so Vogls Fazit, «wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert.»

Im Selbstverständnis der Moderne ist diese Position wesentlich eine Vertrauenssache. Als solche ruht sie einerseits in unserem Geldgebrauch, andererseits verweist sie auf weitere, gleichsam intersubjektive Instanzen: die Ankündigungen der Zentralbanken, die kommunikative Durchschlagskraft der Medien, die Dogmen der Wissenschaft, politische Doktrin und – etwas entrückt schon in die Distanz von Appellen an die Vernunft – die Souveränitätspostulate der Verfassungen.

Doch damit hat es sich noch nicht. Darüber hinaus, das wäre Vogls Pointe, kommt es auf «Souveränitätsreserven» an, das heisst auf eine latente Entscheidungsmacht, die lediglich im Vollzug sichtbar und im Zusammenhang eines Verlaufs darstellbar wird. Sie ist in einem eminenten Sinn geschichtlich.

So wie Vogl die Sache darstellt, wird überdeutlich, dass aus der Konstellation der letzten Jahre und Jahrzehnte vor allem robuste Vorteile für Kapitalinteressen resultieren. Gerade deswegen könnte der Titel des Buchs allerdings missverständlich sein: Er verspricht Einsicht in die Verfertigung eines schönen Scheins. Wer nun erwartet, «dahinter» stecke eine stabile Agentur, sieht sich getäuscht. Allerorten ist spekulatives Vermögen mit am Werk, und ein solches lässt sich nicht auf einen festen Nenner bringen.

Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt. Diaphanes. Zürich 2015. 320 Seiten. 33 Franken