«Zwischen Amok und Alzheimer»: Das rohe Leben im Kapitalismus
Aus Bindungen werden Kontakte, aus Narzissten Psychopathen, und die Empathie verschwindet. Ein Buch schildert, wie der moderne Kapitalismus unseren Umgang miteinander verändert.
Götz Eisenberg arbeitet bereits seit vielen Jahren als einer von nur wenigen ExpertInnen an einer entscheidenden Nahtstelle: Wie verändern Prozesse der kapitalistischen Wirtschaft die Menschen und deren Alltagsleben? Wie agieren und reagieren sie, welche Spiel- und Schutzräume haben sie – und was mobilisieren sie dagegen?
Eisenberg muss, da er publizistisch in einer linken Nische arbeitet – manche seiner Texte werden in dem vergleichsweise reichweitenstarken linken Onlineportal «Nachdenkseiten» publiziert, andere im pädagogischen Onlinemagazin «Auswege» –, kurz vorgestellt werden: Auf das Studium, unter anderem der psychosomatischen Medizin, folgte eine Ausbildung zum Familientherapeuten. Seit 1993 arbeitet er als Psychologe im Erwachsenenvollzug in einer Justizvollzugsanstalt.
In seinem Buch «Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus», einem als Collage inszenierten langen Essay, geht er von Erlebnissen in seinem beruflichen und privaten Alltag aus, um mithilfe von vielen literarischen und wissenschaftlichen Quellen nach Antworten auf die Fragen zu schürfen: Was steckt hinter diesen Erlebnissen? Und wie sind diese zahlreichen zerstückelten Handlungen miteinander verbunden?
Lackierte Kampfhunde
Was Eisenberg sieht, sehen die einen nicht und andere nicht mehr: die Verrohung im Umgang mit hilflosen Alten und Schwächeren; die «rabiate Vergleichgültigung»; der «Handywahnsinn»; die Rücksichtslosigkeit und die «lackierten Kampfhunde» im Strassenverkehr; die drohende Abschaffung eines Wochenmarkts («das emotionale Herzstück der Stadt»), weil er sich nicht «rechnet». Und dass inzwischen Kontakte Bindungen ersetzen.
Seine Befunde: Die Ära des «innengeleiteten Charakters» (so der US-amerikanische Soziologe und Erziehungswissenschaftler David Riesman) gehe zu Ende. Das Bürgertum und seine Kultur würden zerstört. Das Leben der Menschen werde künstlicher, gefühlloser, roher. Die Menschen würden distanzierter leben. Der Drang zur Selbstinszenierung und zum Eigenmarketing präge zunehmend ihr Handeln. Wer Charakter und damit Eigentümlichkeiten zeige, drohe in einer Welt, in der das kapitalistische Wirtschaften die Flexibilität (und damit die Bindungslosigkeit gegenüber Menschen wie Werten) als entscheidende Anforderung durchgesetzt habe, zur komischen oder tragischen Figur zu werden.
Eisenberg sieht unsere Gesellschaften in einem fliessenden Übergang: Der Menschentypus des Narzissten werde vom Psychopathen abgelöst, der Bindungen nur noch nachahmen, aber nicht mehr empfinden könne und ebenso anpassungsfähig sei wie ausschliesslich am Eigennutz interessiert. Dazu passe, so Eisenberg, dass sich seit etwa dreissig Jahren Ansehen und Bedeutung von Empathie und Mitgefühl im freien Fall befänden.
Ist das Digitale nur negativ?
Eisenberg befindet sich also in einer Art Handgemenge mit der Wirklichkeit. Die Frage ist nur: mit welcher?
Denn: Bietet das Leben im Kapitalismus nicht genauso das Gegenteil dessen, was Eisenberg beobachtet? Beginnend mit den Wochenmärkten, die dort, wo es sie noch nicht gibt, von Stadtverwaltungen wegen ihrer Beliebtheit geradezu (neu) erfunden werden? Die Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen mag immer noch viel zu gering sein, aber sie ist in Deutschland in den letzten Monaten spürbar grösser als zuvor. Eine Wirtschaft des Teilens greift um sich, wahrscheinlich, weil immer mehr Menschen nur noch der pure Nutzwert der Waren wichtig ist. Nach der Analyse von Eisenberg dürfte es diese Tendenzen nicht geben.
Und es wäre interessant zu wissen, wie Eisenberg seine Meinung begründet, dass die digitalen Werkzeuge den Menschen überwältigen und ihm keine Möglichkeit bieten, sie in emanzipatorischem Sinn zu nutzen. Zumal die Durchdigitalisierung von Alltag und Arbeit uns erst noch bevorsteht: selbstfahrende Autos, Roboterisierung der industriellen Automatisierung, Roboterisierung der Haushalts-, Alten- und Pflegearbeit, Weiterentwicklung von künstlicher Intelligenz – das alles kommt vermutlich noch auf uns zu. Dass Eisenberg das Digitale fast ausschliesslich negativ sieht, könnte allerdings auch positiv gewertet werden: Denn seine Rigorosität regt zum Nachdenken an.
Spaziergänge durch den Alltag
Götz Eisenberg macht also wenig Hoffnung, seine starken Metaphern verheissen vor allem Düsternis. Aber welche Alternativen sind denkbar? Wie stellt er sich die andere Welt vor? Das skizziert er schon – beispielsweise anhand des Wochenmarkts, der für ihn ein bunter Flecken Sinnlichkeit ist. Ein «Recht auf Stille» und der Abschied vom Wachstumsdenken sind für ihn tragende Pfeiler eines neuen Lebens.
Eisenberg schreibt gut, verständlich, anschaulich. Und er bietet etwas an, über das er in Hülle und Fülle verfügt: Erfahrungen, einen wachen Blick, ein grosses Wissen, klare Positionen. Und zahlreiche Ausgangspunkte für Spaziergänge durch den eigenen Alltag.
Götz Eisenberg: Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus. Brandes & Apsel Verlag. Frankfurt am Main 2015. 289 Seiten. 39 Franken