Globaler Pop: Brutal eintauchen

Nr. 9 –

Ohne Aneignung keine Kultur. Doch wie umgehen mit Sounds und Bildern aus anderen Weltteilen? Die Frage beschäftigt den Musikethnologen Thomas Burkhalter seit über zwanzig Jahren, neuerdings wieder als Musiker.

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Portraitfoto von Thomas Burkhalter
«Mich hat immer interessiert, in welchen unterschiedlichen Formen wir Geschichten über die Welt von heute erzählen können»: Thomas Burkhalter.

Es gibt eine Art Ritual, wenn Journalist:innen bei Thomas Burkhalter zu Besuch sind. Meist nutzt man die Gelegenheit, um den Musikethnologen nach neuen Trends abseits der westlichen Zentren zu befragen – Kairo, Bogota, Karachi, wo spielt der Sound der Gegenwart? Doch diesmal winkt Burkhalter ab: «Ehrlich gesagt höre ich im Moment gar nicht so viel Musik.» Muss man sich Sorgen machen?

Blasses Sonnenlicht fällt durch die hohen Fenster in einem der oberen Stockwerke des Berner Kulturzentrums Progr. Hier arbeitet Burkhalter, umringt von Schallplatten, Film- und Festivalplakaten, es ist eher ein Atelier als ein Büro. Dass das Musikhören für ihn gerade nicht so wichtig ist, liegt daran, dass Burkhalter sich in ein anderes Projekt vergraben hat. Melodies In My Head heisst die Band mit dem Musiker Daniel Jakob, und man könnte ein Genre erfinden für das, was die beiden auf ihrem ersten Album, «Joy Anger Doubt», betreiben: Ethnografischer Synth Pop.

Mal roher, mal moduliert

Gerade arbeitet Burkhalter daran, die visuelle Ebene für die Konzerte zu konzipieren, die die beiden im Frühling spielen werden: projizierte Videos, Ausschnitte aus Gesprächen mit Musiker:innen, dazu Visuals. Für das Album hat sich der 51-Jährige durch die gesprochenen Stimmen gegraben, die sich in seinen über zwanzig Jahren als Journalist und Wissenschaftler in Form von Audiodateien auf seiner Festplatte angesammelt haben. Ausschnitte aus diesen Gesprächen, griffige Sätze oder ganze Passagen, hat er zusammen mit Jakob – mal roher, mal stärker moduliert und arrangiert – zu elektronischen Popsongs verarbeitet, deren Sounds und Melodien manchmal lustvoll nach Mainstream klingen.

«Wenn mich etwas beschäftigt, habe ich die Tendenz, brutal einzutauchen», sagt Burkhalter. Jetzt sei es eben gerade das Visuelle. Er schaut sich Tutorials zu Videoschnitt an, studiert Sprachen der Fotografie. Dazu hat er dann doch noch eine Empfehlung: den Fotografiepodcast «The Messy Truth». Darin sei die Repräsentation anderer Kulturen oft ein Thema. «Das Auge ist vielleicht noch schlimmer als das Ohr, wenn es um koloniale Praktiken geht: Jemand kommt, schiesst ein Bild, geht wieder.»

Wie soll man sich als vergleichsweise privilegierter weisser Europäer verhalten, wenn man sich bei einer Kultur aus dem Globalen Süden bedient oder mit deren Exponent:innen zusammenarbeitet? Darüber denkt Burkhalter schon lange nach, zuerst als Musikjournalist, dann als Ethnologe. Für seine Dissertation studierte er die Musikszene von Beirut. 2002 gründete er in Bern das Onlinemagazin Norient, das Texte über Musik und Popkultur veröffentlicht, die sich zwischen Journalismus und Wissenschaft bewegen. Bald kamen ein Festival und Buchpublikationen hinzu. Der Name des Magazins ist ein Wortspiel auf Edward Saids postkolonialen Klassiker «Orientalism»: No-Orient.

Keine Drittweltromantik

2022 stritt die Schweiz einen Sommer lang über kulturelle Aneignung, nachdem ein Konzert der Reggaeband Lauwarm in der Brasserie Lorraine in Bern abgebrochen worden war, weil sich jemand im Publikum an den Dreadlocks der weissen Musiker gestört hatte (siehe WOZ Nr. 8/25). Es war keine hochstehende Debatte, die in Schweizer Medien darauf geführt wurde – Burkhalters Einwurf kam da gerade recht. In der «NZZ am Sonntag» betonte er, dass die Diskussion um kulturelle Aneignung wichtig sei, auch wenn er es nie richtig finde, eine Band von der Bühne zu schicken. Doch müsse man sich jetzt auch nicht wundern über die Kritik junger Aktivist:innen, zumal auch in der Linken lange ein von kulturellen Klischees geprägter Blick auf Teile der Welt vorgeherrscht habe: «Noch vor zwanzig Jahren gab es einen regelrechten Trend mit afrikanischen Trommelkursen und Konzerten voller Drittweltromantik.»

Anfangs stand Norient eher schräg in der Landschaft. «Viele haben nicht begriffen, dass wir über zeitgenössische Musik aus diesen Ländern berichten; sie dachten, wir beschäftigen uns mit Folklore – und Weltmusik war sowieso uncool», erzählt Burkhalter. Heute bedient sich angesagte Pop- und Tanzmusik gern bei Beats aus Süd- und Westafrika, Brasilien oder der Karibik. Norient schrieb schon vor fünfzehn Jahren über den Aufstieg des Reggaetons, inzwischen eines der erfolgreichsten Genres der Welt. Heute sind die klassischen Norient-Themen keine Nischen mehr.

Das Nachdenken über postkoloniale Zusammenhänge ist bei Norient weniger der politischen Dringlichkeit geschuldet, die antirassistische Bewegungen wie Black Lives Matter in den vergangenen Jahren erzeugten. So ist die Organisation des Magazins etwa schrittweise dezentralisiert worden: Je ein Drittel der Redaktion arbeitet heute in der Schweiz, in Berlin und in Delhi. Bald sollen Akademiker:innen, die zu Musik forschen, auf der Website selbstständig auf ihre Publikationen hinweisen können – eine Plattform für diejenigen, die dort suchen, wo die Algorithmen nicht hinkommen.

Und das Norient Festival? Diesen Januar haben die Macher:innen eine Pause eingelegt, um das Format grundsätzlich zu überdenken. Der Ausgang sei offen, sagt Burkhalter, möglich sei etwa, eine Art Symposium daraus zu machen. «Vielleicht ist es heute wieder wichtiger, dass wir uns physisch treffen, statt nur Texte um die Welt zu schicken und zu veröffentlichen.»

Fest der Vielstimmigkeit

Ohnehin hat er genug zu tun mit seiner neuen Band: Melodies In My Head sieht er als Fortführung seiner Arbeit als Journalist und Wissenschaftler: «Mich hat immer die Frage interessiert, in welchen unterschiedlichen Formen wir Geschichten über die Welt von heute erzählen können.» Und wie geht das nun, wenn es Popsongs sind?

Das Album «Joy Anger Doubt» ist zuallererst ein Fest der Vielstimmigkeit. Es lohnt sich, die Credits dazu zu lesen. So erfährt man etwa von Balbir Bhujhangy, dessen Gesang in «Birds from Above» zu hören ist. In einem Vorort von Birmingham singt er in den Pubs seit fünfzig Jahren Lieder in der indischen Sprache Panjabi über seinen Alltag als Fabrikarbeiter. Oder vom libanesischen Death-Metal-Gitarristen Garo Gdanian, 2006 gleich nach dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah von Burkhalter interviewt. Auf dem Album spricht er über den Krieg mit sich selber: «Die schlimmste Angst ist, dort zu bleiben, wo man ist.» Solche Passagen klingen manchmal wie Spoken Word.

Burkhalter geht es vor allem darum, diese Stimmen in anderen Kontexten hörbar zu machen: «Ich finde es enorm wichtig, diesen Musiker:innen zuzuhören, auch weil wir dabei so viel über unsere Gesellschaften lernen.» In diesem Wunsch, zu vermitteln, liegt sicher viel Idealismus, aber auch echte Zuneigung für die Musiker:innen, mit denen er zusammenarbeitet. Immer wieder weist Burkhalter darauf hin, dass deren Auskommen nicht selbstverständlich ist: «Es ist schwierig geworden, als Musiker:in zu überleben. Ich kenne so viele, die aufgehört haben. Riesige Talente, die die grossen Plattformen fünf Jahre lang mit Content füttern, den wir dann fast gratis konsumieren. Dabei braucht künstlerische Arbeit Zeit, um sich zu entwickeln.»

Und wie sieht für ihn nun eine faire Zusammenarbeit aus? Klar: die Zustimmung der Urheber:innen einholen, ihre Beiträge bezahlen. Grundsätzlicher wird es in den dreizehn Prinzipien, die sich Burkhalter in einem Papier für seine Arbeit mit globaler Musik aus europäischer Perspektive gegeben hat. Es geht um Politik und Macht, aber vor allem immer wieder darum, Oberflächlichkeit zu vermeiden: tief zu graben, die Dinge aus der Nähe zu betrachten, Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. «Vielleicht habe ich das von meinem Grossvater», meint Burkhalter, «der hat in Holland sein Leben lang Deiche ausgehoben.»

Was auch auffällt: Die Tracks von Melodies In My Head sind in einer musikalischen Sprache produziert, die von irgendwo kommen könnte. Fände er es problematisch, unter einen seiner Tracks etwa einen trendigen südafrikanischen Gqom-Beat zu legen? «Nein», sagt Burkhalter, «das wäre mir einfach zu billig, zu anbiedernd.»