Bibliothek der Zukunft: Gefährliche Orte des Begehrens

Nr. 37 –

Bibliotheken speichern nicht nur Wissen, sondern lehren auch den Umgang damit. Nach dem Waffenschrank, dem Museum und dem Gefängnis kommt jetzt das sensitive Wohnzimmer.

Grundkonflikt: Soll sich eine Bibliothek – hier die französische Nationalbibliothek – architektonisch möglichst abschliessen oder sich doch mit der Aussenwelt vernetzen? Foto: Bibliothèque Nationale de France

Mit dem Kopieren von alten Manuskripten in einer Bibliothek will der Student Anselmus sein Taschengeld aufbessern. Auch erhofft er sich davon einen Karriereschub für seine Beamtenlaufbahn. Doch statt eines Hofratstitels erwartet ihn ein wahnwitziger Medienzauber, der ihm die Sinne berauscht, die grosse Liebe beschert und ihn nach Atlantis versetzt. E. T. A. Hoffmanns Märchen «Der goldne Topf» (1814) beschwört nicht nur das Wunderbare und Irrationale, wie es für die Romantik typisch ist. Hier wird auch die schwierigste Aufgabe der Bibliothek verhandelt: ihre Funktion als Medium zwischen Mensch und Schrift, als Vermittlerin zwischen verschiedenen Zeiten und Welten. Denn was ist die Bibliothek anderes als ein Ort, der uns den Zugang zu Informationen aus der Vergangenheit verschafft, sei es eine antike Schriftrolle, eine Daguerreotypie aus dem 19. Jahrhundert oder die Zeitung von vorgestern?

Alles droht unterzugehen

Die grösste Herausforderung ist dabei nicht das Speichern. Zwar haben unterschiedliche Materialien zu allen Zeiten elaborierte Techniken erfordert, um dem Verfall der Dokumente entgegenzuwirken: Sorgfältig temperierte und belüftete Räume sollten Pergament und Papier vor Schimmel und Insekten schützen, die regelmässige Herstellung von neuen Abschriften wichtige Texte vor Bränden und Verschleiss sichern, auf mehreren Servern installierte Langzeitarchive der Flüchtigkeit digitaler Daten ein Ende setzen. Noch schwieriger aber ist die Frage, wie das Gespeicherte reaktiviert werden kann – eine Frage, die in Anbetracht der enormen Speicherkapazität neuer Medien so dringend ist wie nie zuvor. Denn in der enormen Flut von archivierten Artefakten droht alles unterzugehen. Tradierung aber ist nur möglich, wenn das Gespeicherte immer wieder neu gelesen, sortiert, verhandelt und zur Gegenwart in Beziehung gesetzt wird. Für diese Animation reichen technische Geräte nicht aus. Es braucht zudem Regeln für unseren Umgang mit dem Material, verbindliche Wertungen, die bei der Selektion helfen, und ein Begehren, überhaupt mit der Überlieferung in Kontakt zu treten und sie zu beseelen.

Von diesem Begehren erzählt Hoffmanns Märchen. Seine Bibliothek ist kein staubiges Archiv, sondern oszilliert zwischen Laboratorium, Gewächshaus und mittelalterlichem Skriptorium. Sie ist ein Ort der Verwandlung: Vögel werden zu Blumen, Blütenblätter zu Schriftrollen, und die geheimnisvollen Zeichen, die Anselmus kopieren soll, werden zum verführerischen Frauenkörper. In der erotischen Umarmung und in der Ekstase erschliesst sich ihm der Inhalt der Schriftstücke, aus Zeichen wird Realität, aus einem Mythos Gegenwart. Zwar ist diese Verwandlung durchaus ambivalent. Anselmus verliert sich in einer Medienfantasie und bleibt auf ewig in Atlantis. Dennoch ist das Märchen ein Bekenntnis zu einem sinnlichen Umgang mit Texten, und es inszeniert die Bibliothek selbst als komplexes Gefüge, in dem nicht nur verschiedene Medien zusammenwirken, sondern wo auch die Erziehung zum Umgang damit stattfindet.

Tatsächlich sind Bibliotheken nicht nur Orte der Aufbewahrung, sondern auch Erziehungsmaschinen, die die Beschäftigung mit dem gespeicherten Material lenken. Hoffmanns Zauberlabor, in dem geträumt, getrickst, geliebt und geglaubt wird, ist ein romantisches Gegenmodell zur Aufklärung, die die Bibliothek im Lauf des 18. Jahrhunderts als wichtige Institution für ihr Programm, die Gesellschaft aus der Unmündigkeit herauszuführen, entdeckt und vereinnahmt. Gleichzeitig reflektiert das Märchen den blinden Fleck der aufklärerischen Dogmatik: dass sie in ihrer radikalen Ablehnung des Irrationalen ihre eigenen Fantasien – den Traum einer totalen Wissensordnung, die Utopie einer vernünftigen Menschheit und den Glauben an den Sieg der «Wahrheit» über den «Aberglauben» – nicht hinterfragt.

Ein gutes Beispiel für diesen blinden Eifer sind die «Beschreibungen einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781» des Berliner Aufklärers Friedrich Nicolai. Das Werk besteht aus einer akribischen Auflistung und Beschreibung aller Institutionen, die aus Nicolais Sicht für eine aufgeklärte Gesellschaft relevant sind. Dazu gehören auch die Bibliotheken. Allerdings nur insofern sie seinen Kriterien entsprechen: ein öffentlicher Zugang, eine «szientifische Ordnung» mit aktuellen Beständen, aber auch ein «einladendes Äusseres» und eine übersichtliche Anordnung der Bücher. Ein Zimmer mit Werken «aus der theologischen Polemik und Ascetic» hingegen verlässt Nicolai «mit einer Anwandlung von Grausen und Gähnen». Und über die Universitätsbibliothek in Bamberg wettert er: «Ich habe nirgends einen so unglaublichen Schund von Legenden, Jesuitischen Fratzken und unsinniger Polemik angetroffen. Wehe der studirenden Jugend, die in einer solchen Bibliothek studiren soll!»

Hochgradig imaginär

Die Bibliothek ist – auch bei Nicolai – ein hochgradig imaginärer Ort, ein Topos der Visionen und Erwartungen, aber auch der Ängste und Tabus. Diese imaginäre Aufladung macht sie einerseits zum beliebten Schauplatz für fiktionale Erzählungen. In der Literatur wird die Bibliothek als Metapher für alles mögliche eingesetzt, bevorzugt für komplexe, kaum fassbare Konzepte wie «das Universum», «die Welt», «die Vergangenheit» oder «das Wissen». Andererseits verraten die Metaphern auch einiges darüber, was unter einer Bibliothek verstanden wird und welche Aufgaben ihr zugewiesen werden.

Im Mittelalter hat sich der Begriff «Armarium» – auf Deutsch: Waffenschrank – für die Bezeichnung der klösterlichen Bibliotheken durchgesetzt. Denn, so erklärt es eine Handschrift aus dem 12. Jahrhundert, «wie die Laien mit Waffen gegen Feinde kämpfen, so kämpft die heilige Kirche gegen die Ungläubigen mit Worten der Väter, welche in den Büchern aufgeschrieben sind». Der Bibliothekar, genannt Armarius, war nicht nur für die Pflege der Bestände verantwortlich, sondern er kontrollierte auch die Ausgabe von Werken und Schreibmaterialien und hielt gefährliche Schriften unter Verschluss.

Nach der Aufklärung waren das 19. und frühe 20. Jahrhundert geprägt von Universalbibliotheken. Diese wuchsen aufgrund der neuen Druckverfahren und der zeittypischen Sammelwut zu riesigen Materialbergen an und erforderten neue Ordnungssysteme sowie neue Metaphern. Im Film «Toute la Mémoire du Monde» (1956) zeigt Alain Resnais die Bibliothèque Nationale de France als Gedächtnis und Gefängnis zugleich. Die Wörter und Texte sind in den unzähligen Zellen und Kellerverliesen einer ständig wachsenden Festung im doppelten Sinn verwahrt: zu ihrem Schutz, aber auch zum Schutz der Menschen draussen, die sich vor der Masse ihrer eigenen Erzeugnisse fürchten. In den vergleichsweise kleinen Lesesälen findet der Dialog zwischen Insassen und BesucherInnen als Dialog zwischen Toten und Lebenden statt.

Albtraum und Vision

Die französische Nationalbibliothek ist aber auch ein gutes Beispiel dafür, wie sich Metaphern materialisieren und Realitäten mitgestalten. Nicht nur der von Resnais erzählte Umgang mit den verwahrten Schätzen, auch die Architektur folgt der Logik eines Speichers für die Ewigkeit. Die repräsentativen Räume des alten Hauptgebäudes, des Site Richelieu-Louvois in Paris, sind als Andachtsräume konzipiert, die Salle Labrouste aus dem 19. Jahrhundert trägt typische Merkmale eines Sakralbaus, und die gesamte Bibliothek erinnert an ein Mausoleum. Bezeichnenderweise wird der Site Richelieu derzeit einer Renovation unterzogen, die eine stärkere Öffnung zur Stadt hin bringen wird. Dieser Umbau verweist auf einen Grundkonflikt jeder Bibliothek: Soll sie ihre Schätze schützen oder zugänglich machen? Soll sie sich abschliessen, um Ruhe und Kontemplation zu ermöglichen, oder möglichst eng mit der Aussenwelt vernetzt sein? Selbst eine Bibliothek, die sich als ewiges Gedächtnis, Mausoleum oder Festung versteht, will kein Grab sein.

Die Digitalisierung schafft neue Möglichkeiten, mit diesem Dilemma umzugehen, fordert uns aber auch heraus, neue Bibliotheksfantasien zu entwickeln. Während sich die öffentliche Debatte vor allem um den freien Zugang zu Wissen und Information sowie um die unabsehbaren Folgen einer Verschiebung der Lese-, Schreib- und Speicherpraktiken in den virtuellen Raum dreht, erobert eine Technologie die Bibliotheken, die für die Organisation und Animation von grösster Bedeutung ist: die Radiofrequenzidentifikation (RFID). Anders als beim Barcode können die Daten der RFID-Tags von einem Lesegerät auch auf Distanz und durch nicht metallische Materialien hindurch erfasst und ausgewertet werden. Zudem sind die Tags programmierbar und können mit unterschiedlicher Information beschrieben werden.

Bereits 2002 setzten einige Bibliotheken die neue Technologie versuchsweise zur Selbstverbuchung und Sicherung ein, und bis heute stehen diese Aspekte im Vordergrund. Durch die drahtlose Datenübertragung können sich Bibliotheken ganz anders organisieren, vor allem lassen sich Personalkosten einsparen: Ein RFID-getagtes Objekt kann, solange es sich im Umfeld eines Lesegeräts befindet, von allen NutzerInnen jederzeit geortet werden. Selbst in riesigen Lagerhallen wäre es kein Problem, mithilfe eines Navigationsgeräts zum begehrten Buch zu gelangen. Doch was die BetriebsökonomInnen zum Schwärmen bringt, wird für die NutzerInnen schnell zum Albtraum. Wenn man weite Wege zurücklegen und jene Arbeit, die in konventionellen Grossbibliotheken von geschultem Personal erledigt wird, selbst bewältigen muss, wird die Nutzung zur Zumutung.

Sensitive Tische

Allerdings wird das kreative Potenzial von RFID noch kaum erkannt. Einer der wenigen Orte, die sich auf visionäre Weise mit der neuen Technologie auseinandersetzen, ist die Kunstbibliothek im Sitterwerk bei St. Gallen. Den Grundstock ihres Bestands bildet die private Kunstbuchsammlung des 2007 verstorbenen Sammlers Daniel Rohner – im eigentlichen Sinn ein Erbe. Dennoch inszeniert sich die Bibliothek nicht als Gedenkstätte. Im Fokus steht vielmehr die Frage, wie die Erbschaft belebt und genutzt und wie daraus neues Wissen generiert werden kann. Die Medienexperimente sind Teil dieser kreativen Geisterbeschwörung, wobei vor allem jene Eigenschaft ausgelotet wird, die RFID im Zeitalter der Digitalisierung so attraktiv macht: die Verbindung von materiellem Objekt und digitalem Raum. RFID ermöglicht im Sitterwerk eine «dynamische Ordnung», die es den NutzerInnen erlaubt, die Bücher nach eigenem Gutdünken zu ordnen und immer wieder neu zu arrangieren. Ein neues Experiment gilt den Möglichkeiten von «sensitiven Tischen»: Diese mit Antennen ausgestatteten Arbeitsflächen registrieren die ausgelegten Medien, vernetzen sie mit Metadatenbanken, übertragen aber auch die Auslegeordnung grafisch in den virtuellen Raum.

Mit dem neusten Tool Bibliozine kann die gesammelte Information – Bilder, Texte, Metadaten – im Layout eines Notizhefts zusammengestellt, kommentiert und bei Bedarf ausgedruckt und zum analogen Notebook zusammengeheftet werden. Wie in Hoffmanns Märchenbibliothek, wo alte Handschriften und neue Medieneffekte das Wunder der Beseelung in Gang setzen, wird auch hier das Zusammenspiel neuer und alter Medien genutzt, um die Lust am archivierten Material zu wecken und den Umgang damit zu steuern. Die Bibliothek im Sitterwerk ist somit nicht nur ein Nachlass, sondern auch ein Ort, wo über die Zukunft von Bibliotheken nachgedacht wird: ein Labor, eine Werkstatt, ein Treibhaus für neue Bibliotheksfantasien und deren Realisierungsmöglichkeiten.

www.sitterwerk.ch

Martina Süess ist Literaturwissenschaftlerin in Wien. Sie arbeitet in verschiedenen Bibliotheken an vielen Orten der Welt, wo sie die Zusammenhänge von literarischen Fiktionen und gesellschaftspolitischen Realitäten erforscht.