Was will die Zukunft von uns wissen? Das Archiv zwischen Wunschtraum und Evidenz

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Am Anfang war der Ort. Ein Archiv ist der Ort, wo Unterlagen, Akten, Urkunden, Datensätze – oder mit dem kompakteren englischen Wort: «records» aller Art – aufbewahrt werden. So oder ähnlich steht es in jedem Herkunftswörterbuch. Dazu wird die älteste Wortwurzel zitiert, die im Archiv steckt: «arche». Das altgriechische Wort bedeutet Anfang, umfasst aber viel mehr: die Urszene einer Erschaffung, nichts weniger als Grund und Urprinzip der Welt.

Mit einer lautlich und thematisch naheliegenden, etymologisch aber falschen Analogie denkt man unwillkürlich auch an die biblische Arche Noah: an ein rettendes Behältnis also, einen Schiffsbauch, der eine sorgfältige Auswahl in sich trägt, die den Fortbestand von Mensch und Fauna nach der globalen Katastrophe der Sintflut sicherstellen soll. Es ist verlockend, sich auch das Archiv als eine solche Arche vorzustellen. Eine Versicherung für die Zukunft – fürs Überleben.

Doch bereits das Altgriechische wies eher in Richtung Aktenschrank als in die bedeutungsmässig überladene Arche. Die alltagsweltliche Definition des Wortes «archeion» lautet prosaisch: «öffentliches Gebäude» oder «Amt», die Residenz der Magistraten. Neben den Magistraten sind dort Dokumente eingelagert, die das Gedächtnis des Staates oder anderer Institutionen repräsentieren. Bis heute. Firmen, Zeitungen, Familien, Gerichte, sie alle unterhalten Archive. Von hier führt ein direkter Weg in die Bürokratie, die bei allen Archivfragen nie ganz fern ist.

Am Rand das Chaos

Aufregung verspricht der Gegensinn der Urvokabel «arche», auf den die meisten Herkunftswörterbücher ebenfalls aufmerksam machen: «anarche», die Anarchie als Abwesenheit von Führung und Gesetz. Das ewige Zerren zwischen Ordnung und Unordnung rumort quasi unerlöst im Archiv. Das Ordnungschaffende wird immer wieder vom Chaos eingeholt – und umgekehrt. Kein Wunder, birgt das Archiv doch nichts weniger als die Erschaffung der Welt aus dem unstrukturierten Nichts. Oder wie die Historikerin Arlette Farge pragmatischer schreibt: «Das Archiv ist kein Lager, aus dem man nach Belieben schöpft, es ist stets ein Mangel.» Es ist also im doppelten Sinn geprägt von dem, was fehlt: weil Dokumente stets nur eine abstrakte Repräsentation der entschwundenen Wirklichkeit sind. Und weil sogar die gewissenhafteste Archivsammlung Lücken aufweist.

Als Ende März in Berlin eine mehrjährige interdisziplinäre Forschungsinitiative zum Thema Archiv mit einer Tagung beschlossen wurde, stand der Hauptdarsteller gleich zur Begrüssung in der Kritik. Unter dem Eindruck von Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe erscheine der bisherige Verlauf der Geschichte heute gerade wieder einmal als Weg Richtung Untergang und Zerstörung – so, sinngemäss, Bernd Scherer in seiner kurzen Einführung. Die sogenannte westliche Zivilisation sieht der Leiter der gastgebenden Institution «Haus der Kulturen der Welt» mitnichten als Kulminationspunkt, sondern als Abgrund, vielleicht sogar als Endpunkt. Zu viele Schienen wurden falsch verlegt, Weichen in die verkehrte Richtung gestellt. Und die Archive als materielle Zeugen und Gedächtnisräume dieses Zivilisationstaumels wirkten oft wie stille Komplizen, womöglich gar Stichwortgeber dieser albtraumhaften Fehlentwicklungen, konnten sie jedenfalls nicht aufhalten.

Doch wie Scherer weiter ausführt, schlummert womöglich in denselben Archiven auch der Keim zu einer Rettungsaktion oder zumindest einer Neuorientierung: wenn die eingelagerten Datensätze neu befragt, kombiniert und interpretiert werden und mit ihnen auch die Machtstrukturen, die sie durchziehen. Und plötzlich hatte das etwas verstaubt wirkende Archivthema wieder Sprengkraft, versprach gar, der Gegenwart einen dringend benötigten Kick zu liefern: «Archival activism!» Dekolonialisiert die Archive! Lägen in diesen Aktenschränken vielleicht gar neue Weltordnungen verborgen, wenn wir nur lernten, die Aufzeichnungen richtig zu lesen und für die Probleme der Gegenwart wirksam zu machen? Oder müssten sie dafür von Grund auf neu zusammengetragen oder zumindest anders sortiert werden?

Gewalt und Gegenarchive

Archivkritik als Machtkritik leitet sich aus der offensichtlichen Gemachtheit der Archive ab. Manchmal sind sie schlicht eine eigennützige Dokumentensammlung der Siegreichen, derjenigen, die die Macht innehatten und behalten konnten oder sie mit Gewalt erzwungen haben. An ihren Aufbewahrungsentscheiden und an ihrer teils strikten Zugangskontrolle entzündet sich seit Jahren Kritik, insbesondere, wenn es darum geht, wie Gründungsakte und Gewalttaten für zukünftige Generationen dokumentiert und zurechtgelegt werden (vgl. Interview mit Adania Shibli ).

Dieser Widerstand regt sich auch archivarisch. Ein Projekt wie Wikileaks kann als Gegenarchiv verstanden werden, als aktivistisch befeuerte Dokumentensammlung, die lückenhafte und irreführende offizielle «records» anficht und zu widerlegen sucht mit dem Ziel, vorsätzliche Staatsgeheimnisse sichtbar zu machen: von Soldat:innen verübte Massaker an der Zivilbevölkerung, verheerende Fehlschüsse in «Präzisionskriegen», andere Lügen im Namen der Nation.

In Berlin wird der Fall der Archivbestände des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien kritisch beleuchtet. Archivstürmer:innen sehen in der gigantischen Beweissammlung ein bereits in seiner Anlage problematisches Projekt: Die Interventionstruppen der Nato mit einem internationalen Gerichtshof quasi im Schlepptau formierten sich zusammen mit Techriesen wie Microsoft zum Regime einer digitalen Kolonialisierung von Gedächtnis und Erinnerung. So der Vorwurf.

Dagegen regte sich Widerspruch. Die serbische Filmschaffende Natasa Damnjanovic argumentierte, dass dieses «Kriegsarchiv», so unperfekt es auch sein möge, trotzdem ein Bollwerk gegen den Geschichtsrevisionismus derjenigen Balkanländer bleibe, die heute in ihrer nationalen Selbstversicherung von Genozid und Kriegsverbrechen nichts wissen wollten. Im Archiv sind die Verbrechen festgehalten: unvollständig, womöglich verzerrt, aber doch festgeschrieben.

Wie jüngst das russische Verbot der Erinnerungs- und Menschenrechtsorganisation Memorial International zeigte, werden Archive von autoritären Regimes oft auch einfach frontal angegriffen und kaltgestellt. Das plumpe Ansinnen: eine bereinigte Version der Vergangenheit herstellen. Memorial zu verbieten ist Teil von Wladimir Putins «Geschichtsstrategie», einer Beschönigung von Stalins Verbrechen, um sich ungebrochen auf diese Vergangenheit berufen zu können. Das Archiv wäre hier der Stolperstein für eine von vernichtenden historischen Realitäten gesäuberte Nationalmythologie.

Die grösste Schwierigkeit bleibt: Wie die Wahrheit der Opfer haltbar machen? Wie Gewalt, Massenmord und Zerstörungen als nicht wegzuleugnende Evidenz rekonstruieren und für die Nachwelt abspeichern? Solche Fragen beschäftigen das Institut Forensic Architecture um den israelischen Architekten und Raumforscher Eyal Weizman. Forensic Architecture untersucht seit vielen Jahren alte und neue Verbrechen mit interdisziplinärer Kombinationsfreude und technologisch versierten Schürfungen in neuen Schichten alter Archive oder indem man neue Archive eröffnet und anzapft: Computeranimationen von Fabrikgebäuden, um zu beweisen, wie Fahrlässigkeit zu deren fatalem Einsturz geführt hatte; Satellitenaufnahmen, um Massengräber aufzuspüren. Das Ziel: menschliche Zeitzeug:innen und ihre notwendigerweise oft prekären und lückenhaften Testimonials wo immer möglich mit materieller Evidenz zu stützen.

Literatur ohne Autor:innen

In seinem Essay «Das Archiv brennt» kommt der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman wiederum zum Schluss, das Archiv allein sei weder das blosse Spiegelbild eines Ereignisses noch «dessen Beweis». Es könne aber einen «unvorhersehbaren Wirklichkeitseffekt» freisetzen, der plötzlich aufblitze. Dazu müssten die Archive jedoch immer wieder neu durchgearbeitet und kombiniert werden. Jede Zeit hinterlässt so ihre eigenen Interpretationsspuren in den Archiven und formt sie ein Stück weit neu. In diesen Beschreibungen zeichnet sich eine Verwandtschaft zwischen Archiv und Literatur ab: das Archiv als eine Art Roman – und der Roman als Archiv.

Doch wie überführt man die Literatur selbst ins Archiv? Und was bleibt am Ende von einer archivierten Schriftstellerin übrig? Ihr Werk natürlich. Aber was gehört neben den Romanen, Theaterstücken, Gedichten, Kurzgeschichten und Skizzen alles zu einem Werk? Briefe und E-Mails? Gewiss. Aber: wirklich alle E-Mails? Tagebücher und Notizhefte – klar. Doch muss dann nicht auch die ganze Bibliothek der Schriftstellerin mit archiviert werden? Ihre Festplatte? Die Ordnung oder Unordnung auf ihrem Schreibtisch? Und wie und wo soll man das alles lagern?

Hierzulande ist das Schweizerische Literaturarchiv in Bern für die Aufbewahrung von Schriftsteller:innennachlässen zuständig. Die online säuberlich aufgelisteten Nachlassobjekte dieses Archivs regen die Fantasie sogar ganz ohne physischen Nahkontakt an. Unwillkürlich taucht aber auch die Frage auf, inwieweit Hermann Hesses Brillensammlung, die Tabakpfeife des NZZ-Korrespondenten und Schriftstellers Reto Caratsch oder die ins Tagebuch gekritzelten Katzenzeichnungen von Patricia Highsmith zum Verständnis ihrer Literatur beitragen.

«Was ist ein Autor?», fragte der Diskurshistoriker Michel Foucault schon Ende der 1960er Jahre. Und: «Wie kann man aus den Millionen Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk bestimmen?» Was ist mit der Wäschereirechnung, die ins Notizbuch gerutscht ist? Oder dem Streichholzbriefchen zwischen den Tagebuchseiten?

Foucaults Fragen hatten eine polemische Stossrichtung. Er wollte den oder die Autor:in neu definieren – abseits von Wäschereirechnungen und anderen allzu menschlichen biografischen Spuren. Sein kühner Hintergedanke: Könnten wir vielleicht sogar lernen, über Literatur zu sprechen, ohne Autor:innennamen zu benutzen? Was automatisch dazu führen würde, dass man auch die Literaturarchive neu sortiert und befragt. Das war der Geruch der Revolution von 1968. Ein Archiv war für Foucault eh nichts anderes als ein Regelwerk, unter dem sich Aussagen und Daten als archivierungswürdig auszeichnen und gruppieren lassen. Warum also nicht einfach die Regeln ändern und diese Ansammlungen neu anordnen? Verkrustete Kategorien und Nachbarschaften auch in den Archivschränken aufbrechen?

Wie schwierig es offenbar ist, auf neue Ideen, Regeln und Verknüpfungen zu kommen, zeigt der Blick in die Welt der Verlagskataloge, Literaturkritik, Literaturfestivals von heute: Die Autor:innen haben sich weitgehend als zentrales Orientierungsprinzip behauptet. Auch das Interesse an ihnen als Privatpersonen bleibt ungebrochen.

Der Geschmack der Kreuzritter

«Ich steige ins Archiv», sagt man. Das klingt wie: in eine Gruft oder Grube steigen. Die weiteren Assoziationen dazu sind aufs Erste unüberlegt nostalgisch: Staub, knarrende Böden, alte Räume, konzentrierte Stille, der Geruch von altem Papier, Druckerschwärze, Tinte. In der gesättigten Luft liegt die Ahnung des Zerfalls. Mit der Digitalisierung riecht diese Vergänglichkeit immer öfter nach heiss laufenden Servern. «Le goût de l’archive» – sicher kein Zufall, dass Arlette Farge nach den vielen Tagen und Stunden, die sie als Historikerin berufsbedingt in Archiven verbracht hatte, ihr Buch zum Thema so genannt hat.

Auch in der Schweiz kann man in Tausende von Archiven steigen. Im baugeschichtlichen Archiv der Stadt Zürich lagern etwa Reproduktionen historischer Fotografien von Strassen, Plätzen und Häusern. In Bern gibts das Archiv der Schweizer Milchproduzenten mit «Quellen zur ländlichen Gesellschaft». In der ehemaligen Industriestadt Winterthur befindet sich das Sulzer-Archiv, in Genf dasjenige der World Health Organization, am computerlinguistischen Institut der Universität Zürich das Phonogrammarchiv, das «älteste Tonarchiv der Schweiz», mit Aufnahmen «in allen Schweizer Dialekten aller vier Landessprachen». Dazu jede Menge Staats- und Familienarchive, in denen die eigenen Vorfahren bis zu den Kreuzrittern zurückverfolgt werden.

Die meisten Archive kann man nicht einfach unangemeldet besuchen. Dass der Zugang kontrolliert wird, hat mit dem je exklusiven und einmaligen Bestand zu tun. Aber das eingelagerte Wissen scheint auch sonst nicht ganz geheuer: Die Hüter:innen der Archive wollen wissen, wer sich was anschaut. Niederschwelligere Angebote wie etwa ethnologische Sammlungen, Museen und Bibliotheken sind gemäss strikter Definition keine Archive.

Am Archiv leiden

Behalten oder wegwerfen? Auf dem Dach des Konferenzgebäudes in Berlin stand ein riesiger Schredder. Eine Kunstinstallation – und zugleich ein wuchtiger Kommentar zum Konferenzthema, bedrohlich, womöglich aber auch befreiend. Kann es zu viele Archive geben? Oder zumindest zu viel Archiviertes? Besteht irgendwann die Gefahr, dass zu viel Vergangenheit die Gegenwart überwuchert, kapert, erstickt? Wer soll das alles aufarbeiten? Und wer entscheidet, was zu viel ist?

Auch in Theorien zum Archiv ist die brennende Frage einer Zerstörung stets präsent, am deutlichsten wohl bei Jacques Derrida. Der Erfinder der Dekonstruktion verortet in «Le mal d’archive» das Archiv im grösstmöglichen Spannungsfeld: zwischen Eros und Todestrieb, zwischen lustvoller Erhaltung also – und (Selbst-)Auslöschung. Auch sein Titel schlägt bedeutsam in alle Himmelsrichtungen aus. «Le mal d’archive» kann Archivschmerz bedeuten, das Archiv als Übel brandmarken, aber auch eine Art Sehnsucht – Heimweh? – nach dem Archiv markieren.

Entscheidend ist Derridas psychoanalytische Einsicht, dass ein solches materielles Gedächtnis nicht einfach ein toter, unbeweglicher Speicher ist, sondern ein dynamisches, ja ein kreatives System, das das abgelegte Material stets mitgestaltet. Auch das Speichermedium prägt das Gespeicherte. Als Derrida 1994 seine Gedanken zum Verhältnis von Archiv und Erinnerung zum ersten Mal vorträgt, treibt ihn die Frage der E-Mails um, die damals wohl gerade begannen, seinen Alltag umzukrempeln. Eine gute These dazu, wie E-Mails das Archiv verändern würden, hatte er nicht parat. Doch die Ahnung eines gewaltigen Umbruchs ist in seinem Text omnipräsent.

Was hätte er wohl zum jüngeren Versuch gesagt, tief im vielleicht nicht so ewigen Eis von Spitzbergen eine Art Archiv der Menschheit auf Mikrofilm zu bewahren? Diese Zeitkapsel der Zivilisation namens Arctic World Archive wurde 2017 angelegt und hat eine prognostizierte Haltbarkeit von tausend Jahren. Im Idealfall. Bloss: Wen wird das dann noch interessieren? Archive von der Zukunft her zu denken, kann Schwindelanfälle auslösen.

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