Gregor Gysi: «Flüchtlinge müssen sich aussuchen können, wohin sie gehen wollen»

Nr. 37 –

Der deutsche Oppositionsführer Gregor Gysi über den Umgang mit Flüchtlingen, die Bedeutung der Wiedervereinigung und die Zukunft der europäischen Linken.

Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender von Die Linke: «Damit wir nicht so werden wie andere linke Parteien, müssen wir von Podemos lernen.»

WOZ: Herr Gysi, in der deutschen Bevölkerung scheint sich die Stimmung gegenüber Flüchtlingen ins Positive gewandelt zu haben. Wie haben Sie die letzten Wochen erlebt?
Gregor Gysi: Ich beobachte zwei unterschiedliche Entwicklungen. Die eine ist der zunehmende Rechtsextremismus, der sich in Ausschreitungen, Brandstiftungen und rassistischen Beschimpfungen äussert. Gleichzeitig helfen immer mehr Menschen den Flüchtlingen. Laut einer Umfrage schämt sich die grosse Mehrheit der Deutschen für die Gewalttaten – was mich beruhigt, denn früher hätte das vielleicht noch anders ausgesehen. Auch Kanzlerin Angela Merkel hat sich sehr klar gegen die widerlichen Angriffe auf Flüchtlingsheime positioniert. Die Regierung muss jedoch aufpassen: Sie darf sich nicht auf das ehrenamtliche Engagement verlassen – sonst ist plötzlich das Mass voll, und die Leute können nicht mehr.

Wie bewerten Sie die Flüchtlingspolitik der Regierung?
Jetzt werden erste Schritte getan. Obwohl alles abzusehen war, zeigte sich die Kanzlerin aber zuerst völlig überrascht. Die Kommunen haben bisher kaum Hilfe von der Regierung erhalten. Das bereitet natürlich den Nährboden für Rechtsextremismus.

Wie meinen Sie das?
Wenn ein Bürgermeister sagt, er habe kein Geld und müsse Leistungen streichen – dann kippt die Stimmung in Ablehnung der Flüchtlinge. In Wirklichkeit ist das natürlich überzogen. Einmal schrieb mir jemand: «Nehmen wir mehr Flüchtlinge auf, haben wir weniger Geld für Schulen.» Und ich sagte: «Haben wir die Schulen saniert, als wir weniger Flüchtlinge hatten? Das wäre mir neu.» Was die Flüchtlingspolitik angeht: Die Regierung macht seit Jahren nichts, um die Fluchtursachen zu bekämpfen. Entweder wir beginnen jetzt ernsthaft, Kriege, Hunger, Not und Rassismus zu bekämpfen – dann können wir die Fluchtursachen abbauen –, oder wir machen das nicht – dann werden die Weltprobleme täglich verschärfter zu uns kommen, bis sie unbeherrschbar werden.

Das sind langfristige Massnahmen. Was ist kurz- und mittelfristig zu tun?
In Deutschland muss der Bund den Kommunen strukturell mehr Geld zur Verfügung stellen. Wir müssen zudem legale Wege nach Europa schaffen, damit im Mittelmeer keine Menschen mehr umkommen. Wir müssen aber auch auf bestimmte Regierungen Druck ausüben. Es kann nicht sein, dass etwa Ungarn die Bedingungen für Flüchtlinge so schlecht und würdeverletzend gestaltet, dass sie dort nicht bleiben wollen. Hier braucht es einheitliche Massstäbe für alle Länder.

Müsste Deutschland nicht Züge für die Flüchtlinge schicken, die in Ungarn festsitzen? Sie wollen ja alle nach Deutschland …
Man darf die Flüchtlinge nicht wie Kisten verteilen, das ist nicht human gedacht. Sie müssen sich aussuchen können, wohin sie gehen wollen. Aber die Kosten müssen gerecht verteilt werden.

Wie lassen sich die osteuropäischen Länder ins Boot holen, die sich bisher gegen jede Einigung stellen?
Deutschland hat einen so grossen Einfluss in der EU. Es hat sich doch auch in der Griechenlandkrise in fast allen Punkten durchgesetzt. Wenn die Kostenaufteilung entschieden ist und manche Länder nicht zahlen wollen, kann ihnen das Geld bei Überweisungen der EU abgezogen werden.

Die meisten Flüchtlinge kommen aus dem Kriegsland Syrien. Was kann Deutschland dort konkret tun?
Deutschland hätte viel tun können, um Konflikten vorzubeugen. Und nicht Patriot-Raketen und Bundeswehrsoldaten an die syrische Grenze verschieben. Und wenn wir von der jetzigen Situation ausgehen … Deutschland belegt beim Waffenexport Platz drei, wir verdienen also an jedem Krieg.

Nochmals: Was kann man jetzt konkret tun, um den Krieg in Syrien – und damit die Fluchtursache vieler Menschen – zu beenden?
Auch wenn das nicht meine Traumvariante ist: Jetzt müssen wieder Gespräche mit Assad aufgenommen werden. Auch zwischen Russland und den USA muss vermittelt werden. Es ist ja offensichtlich, dass die Chemie zwischen Putin und Obama nicht stimmt.

Zurück zum Thema Rechtsextremismus: Hat sich im Osten Deutschlands eigentlich überhaupt nichts verändert, dass dort immer noch ein rechter Mob tobt?
Erstens ist der Rechtsextremismus so organisiert, dass die Anführer regelmässig aus dem Westen kommen und das Fussvolk aus dem Osten. Zweitens gibt es grosse Unterschiede, man kann den Osten da nicht über einen Kamm scheren. Drittens findet die Jugend keine Arbeitsplätze. Die moderne Jugend zieht aus dem Osten fort. Wir müssen den Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in ganz Deutschland so wirksam wie möglich bekämpfen. Dazu gehört etwa der chancengleiche Zugang zu Kultur und Bildung. Ich weiss, es gibt auch ein paar gebildete Rechtsextremisten, aber das ist die Ausnahme.

Oppositionsführer, Kanzlerin und Bundespräsident sind in der DDR sozialisiert worden. Haben Sie das Gefühl, dass das Deutschland verändert?
Nach 1945 hatten wir in Deutschland besondere Politiker, egal welcher politischen Färbung, denken Sie an Konrad Adenauer oder Willy Brandt. Dann verbeamtete die Politik, das war nicht zu verhindern. Dann gab es 1989 in der DDR einen Umschwung, was von dort erneut ein paar besondere Leute in die Politik brachte.

Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Frau Merkel?
Natürlich stehen wir politisch einander gegenüber, aber wir sprechen ab und zu miteinander und sind da einfach verlässlich. Sie erfahren nicht, was sie mir gesagt hat, und Sie erfahren auch nicht, was ich ihr gesagt habe.

Die Stimmung in der deutschen Politik scheint viel betulicher zu sein als früher. Ist das der Einfluss aus Ostdeutschland?
Verbeamtet war die Bundesrepublik schon vorher, und so sieht der Bundestag immer mehr aus. Wenn du ein sehr guter Anwalt bist, sehr gut verdienst, gehst du doch nicht in den Bundestag, du bist ja nicht bescheuert.

Am 3. Oktober feiert Deutschland zum 25. Mal die Wiedervereinigung. Ist das für Sie ein Tag der grossen Feier?
Der nachdenklichen Feier. Im Osten gibt es immer noch nicht die gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung, immer noch nicht den gleichen Lohn. Ich glaube, es gab schwerwiegende Fehler bei der Vereinigung. Aber auf der anderen Seite ist die Einheit für die Menschen im Osten vor allen Dingen natürlich auch ein grosser Gewinn an Freiheit und Demokratie.

Was vermissen Sie von der DDR?
Dass es in der DDR beim Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur überhaupt keine soziale Ausgrenzung gab. Das ist mir damals gar nicht aufgefallen, aber die Preise für Bücher, Schallplatten, Kino, Theater oder Konzerte waren deshalb so niedrig. Das gilt auch für den öffentlichen Nahverkehr. Zweitens war die Gesellschaft etwas kleiner und übersichtlicher. Es gibt etwas mehr Solidarität, wenn du in einer geschlossenen Gesellschaft lebst. Aber das ist es dann wohl auch schon.

Am 20. September wird in Griechenland gewählt. Zeigt nicht gerade das Beispiel der Syriza-Partei, dass linke Politik innerhalb der EU mehr oder weniger machtlos ist?
Wenn Syriza wiedergewählt wird, werden wir möglicherweise einen Kampf gegen Korruption erleben. Es wäre das erste Mal, dass auch die Reichen in Griechenland Steuern bezahlen müssen. Aber Sie haben recht. Eine Regierung, die gegen achtzehn neoliberal geprägte Regierungen kämpft und das schwächste Land hinter sich hat, kann die Welt natürlich schlecht verändern. Eine Linke ist nicht automatisch schon erfolgreich, nur weil sie an der Regierung ist. Aber sie kann andere Fragen stellen. Es war die erste Regierung, die gesagt hat: «Dieser neoliberale Geist gefällt uns nicht, wir wollen einen völlig anderen Weg gehen.» Das hat Europa aufgewühlt.

Was kann denn die europäische Linke von Syriza oder der spanischen Podemos lernen?
Man kann nicht Partei im engeren Sinn sein, man muss Bestandteil einer Bewegung werden.

Ihre Partei Die Linke ist doch auch keine Bewegung.
Ja, das ist wahr. In gewisser Hinsicht müssen wir von Podemos lernen, damit wir nicht so werden wie andere linke Parteien, so in sich geschlossen.

Aber Sie sind ja jetzt eingebunden in Regierungen. Auch in Thüringen werden Flüchtlinge ausgeschafft, es wird weiterhin klimaschädigende Kohle gefördert. Ihre Partei macht da mit.
Wenn ein Asylbewerberantrag abgelehnt ist, ist er abgelehnt. Da kann auch der linke thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow nicht die Bundesgesetze brechen. Bei der Braunkohle geht es natürlich denen, die dagegen sind, mit dem Ausstieg zu langsam, das ist klar. Wenn wir in eine Regierung gehen, müssen wir Kompromisse machen.

Aber eine linke Politik können Sie nicht machen. Sie machen doch sozialdemokratische Politik …
Nein. Sie müssten mal meine Fraktion erleben. Ist es eine sozialdemokratische Position, gegen jeden Waffenexport zu sein? Sind offene Grenzen eine sozialdemokratische Position? Nein. Letztlich haben wir doch etwas erreicht, das fantastisch ist: Wir haben Deutschland europäisch normalisiert. In Deutschland war eine Partei links von der Sozialdemokratie bis 1989 völlig undenkbar, und jetzt respektieren die Leute – auch die, die uns nicht wählen –, dass es uns gibt, und empfinden das eher als Bereicherung.

Wann gibt es eine rot-rot-grüne Regierung? Und kehren Sie dann an eine Spitzenposition in der Politik zurück?
Bundesminister zu werden, ist eine sehr begrenzte Leidenschaft von mir. Eine rot-rot-grüne Regierung wird es erst geben, wenn es eine politische Wechselstimmung in der Bevölkerung gibt. Die gibt es zurzeit nicht. Die Leute sind ja eher zufrieden mit Frau Merkel. Wenn es so weit ist, geraten die drei Parteiführungen unter Druck, sich miteinander zu verständigen. In allen drei Parteien gibt es Leute, die Angst vor einer gemeinsamen Regierung haben. Und Ängste muss man überwinden.

Gregor Gysi

Im Oktober tritt Gregor Gysi (67) als Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke zurück. Er hat in den letzten 25 Jahren massgeblich zur Verankerung seiner Partei im wiedervereinigten Deutschland beigetragen. In der DDR arbeitete er als Rechtsanwalt und war Mitglied der Staatspartei SED. Beim Zusammenbruch der SED-Herrschaft Ende 1989 gelang es ihm als neuem Parteivorsitzenden, die Organisation unter dem Namen Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) zu reformieren.

Auch bei der Neuformierung der PDS unter dem Namen Die Linke im Jahr 2007 spielte Gysi eine bedeutende Rolle.