Demokratische Republik Kongo: «Wir sind der Kriege müde»

Nr. 38 –

Die Gewalt im Osten der Demokratischen Republik Kongo hält an. Weder die Uno noch die Regierung schützen die Menschen vor dem Terror bewaffneter Milizen. Nun helfen sich die EinwohnerInnen selbst.

«Mittlerweile liebe ich meinen Sohn»: Kavuo Zawadi und ihr Sohn Kambale Crispin. Immer wieder wurde sie vom gleichen Mann vergewaltigt und schliesslich schwanger.

Schweigen. Immer wieder Schweigen. Vor einigen Monaten hatte Kavuo Zawadi noch gar keine Worte. Auch wenn sie inzwischen schon über einiges reden kann, das Sprechen fällt der Kongolesin bis heute schwer. Sie spricht etwa über ihren Sohn Kambale Crispin, den sie, in eine Wolljacke eingehüllt, auf dem Arm hält. Der Kleine ist vier Monate alt. «Jetzt liebe ich meinen Sohn», sagt Kavuo, «auch wenn mir das anfangs schwergefallen ist.» Der Mann, der sie geschwängert hatte, hatte Kavuo monatelang immer wieder vergewaltigt. Das sagt die Achtzehnjährige so leise und ausdruckslos, als spräche sie gar nicht über sich selbst. Manchmal weint sie. Aber sie weint genau so, wie sie spricht, ebenso zurückhaltend. Sie redet weiter und blickt in die Ferne, als bemerke sie die Tränen nicht, die ihr die Wangen herunterlaufen.

Dass sie ihre Geschichte inzwischen überhaupt erzählen kann, verdankt sie den Mitarbeiterinnen von Femmes Engagées pour la Promotion de la Santé Intégrale (Fepsi). Die kongolesische Organisation Frauen für die Förderung ganzheitlicher Gesundheit unterstützt Überlebende sexueller Gewalt, von denen es viele gibt in Kavuos Heimatregion, dem Osten der Demokratischen Republik Kongo (DRC). Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Opfer auf 25 000 im Jahr. Die meisten Täter gehören zu einer der Dutzenden Milizen oder zur kongolesischen Armee. Fünfzehn kongolesische Krankenschwestern hatten die Fepsi im Jahr 2000 gegründet. «Weil wir der Not der Überlebenden nicht länger tatenlos zusehen wollten», sagt Marie-Dolorose Masika Kafanya, Mitbegründerin und Leiterin der Organisation. Seit 2007 wird die Fepsi von der Deutschen Welthungerhilfe unterstützt.

«Mal drei, mal vier, mal mehr getötet»

An einem Tag im März 2014 war die damals siebzehnjährige Kavuo mit ihren beiden Schwägerinnen auf dem Feld, die Frauen pflanzten gerade Reis. Plötzlich tauchten drei Männer in Trainingsanzügen auf, bewaffnet mit Macheten und Messern. «Meine Schwägerinnen sagten sofort: ‹Wir sind so gut wie tot›», erinnert sich Kavuo. Aber statt sie zu töten, trieben die Männer ihre «Beute» vor sich her in den Busch und immer weiter voran, mehrere Tage lang, achtzig Kilometer weit. Als sie im Lager der Milizionäre ankamen, wurde dort gerade ein Mann enthauptet. «Seinen Körper warfen sie auf ein Feuer, den Kopf rollten sie an die Seite.»

Anschliessend hätten die Bewaffneten Kavuos Schwägerinnen aufgefordert, vom Fleisch des Toten zu essen. «Die beiden haben sich geweigert und gesagt, dass sie lieber ebenfalls getötet würden.» Kurz darauf wurden sie enthauptet, Kavuo musste zuschauen. Als sie an die Reihe kam und der Milizionär die Machete schon angesetzt hatte, rutschte ihm die Waffe aus der Hand. «Das nahmen die Milizionäre als Zeichen und liessen von mir ab.» Sie wurde gefesselt und in eine Hütte geführt. Dort blieb sie in den nächsten Wochen, wurde nur losgebunden, wenn das Oberhaupt der Milizen sie vergewaltigen wollte. Auf dem Weg zwischen ihrem Gefängnis und seiner Hütte kam sie regelmässig an der Feuerstelle vorbei. «Da wurden immer wieder Menschen getötet. Mal drei, mal vier, mal mehr.»

Zu welcher Gruppe die Täter gehörten, wisse sie nicht, sagt Kavuo. Ihre Schwägerinnen hatten vermutet, sie seien Mitglieder der ADF-Nalu gewesen, einer islamistischen Miliz aus Uganda. Die kongolesische Regierung beschuldigt die Gruppe, eine Reihe von Massakern im Osten des Kongo verübt zu haben. Aber Kavuo kann das nicht bestätigen.

Vier Monate dauerte es, bis die kongolesische Armee das Lager der Milizionäre überfiel und Kavuo sowie einige weitere Frauen befreite. Als die junge Frau nach tagelangem Fussmarsch ihr Heimatdorf Kyondo erreichte, war in ihrem Elternhaus gerade eine Trauerfeier in Gang. Beim Näherkommen begriff Kavuo, dass um sie getrauert wurde: Ihre Familie hielt sie inzwischen für tot. «Als ich näher kam, stürzten alle in heller Panik davon, sie hielten mich für eine Erscheinung.» Nur ihre Mutter habe sie als ihre Tochter erkannt, sei zögernd auf sie zugekommen. In der Krankenstation des Ortes empfahl man Kavuo am nächsten Tag, zu Fepsi nach Butembo, der zweitgrössten Stadt in der Region Nord-Kivu, zu gehen. «Als sie bei uns ankam, war sie völlig verstört», erinnert sich Masika Kafanya. «Sie konnte kaum sprechen. Es war klar, dass sie völlig traumatisiert ist.» Da Kavuo zudem schwanger war, behielten die Frauen der Organisation sie da.

Wut und dunkle Augenringe

Die Organisation hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 2000 nach und nach vergrössert. Inzwischen betreibt sie in Butembo ein Krankenhaus mit 65 Betten. Dort werden nicht nur Überlebende sexueller Gewalt betreut, sondern auch andere PatientInnen. «Wir wollen eine Stigmatisierung der Opfer vermeiden», erklärt Leiterin Masika Kafanya. Ausserdem bringen die übrigen Patientinnen Einnahmen, die Fepsi für die Versorgung von Überlebenden und Flüchtlingen verwendet. Die Organisation betreut Kavuo und andere Überlebende nicht nur medizinisch, sondern berät sie auch juristisch. Ausserdem bekommen sie Hilfe beim wirtschaftlichen Neustart, sobald sie psychisch einigermassen stabil sind. «So weit ist Kavuo aber noch nicht», so Kafanya. Immerhin kam ihr Sohn Kambale Crispin vor vier Monaten im Krankenhaus von Fepsi gesund zur Welt. Mutter und Sohn leben inzwischen bei Verwandten in Butembo.

Trotz dieses und ähnlicher Erfolge bei der Unterstützung von Überlebenden ist Elisabeth Mbusa Kavuo aufgebracht und wütend. «Die Menschen werden hier zu Hunderten massakriert, und es gibt keine Untersuchungskommission, keine Ermittlungen – nichts!», schimpft «Mama Elise», ebenfalls eine Mitbegründerin von Fepsi.

Die brutalen Terrorattacken der vergangenen Monate im Ostkongo wirken wie eine gezielte Kampagne, um in der Bevölkerung Panik zu schüren. Aber eine lebendige Zivilgesellschaft versucht, diesen Übergriffen etwas entgegenzusetzen. Die AktivistInnen fordern, dass das Regime von Präsident Joseph Kabila endlich handelt. «Die Regierung muss diese Morde aufklären», verlangt auch Masika Kafanya. Die Sechzigjährige hat dunkle Ringe unter den Augen. Aber sie gibt nicht auf – schon gar nicht wegen Müdigkeit. «Es stimmt schon, dass ich oft nicht schlafen kann», räumt die Krankenschwester ein. «Die Geschichten der Frauen verfolgen mich noch in der Nacht.» Seit rund fünfzehn Jahren hört sich Masika Kafanya tagtäglich an, zu welchen Grausamkeiten Menschen in der Lage sind.

Hohes persönliches Risiko

Fepsi gehört zu einem Dachverband von Menschenrechtsgruppen, zu dem auch die dreizehn Rechtsanwältinnen zählen, die sich in Butembo zum Verband der Femmes Juristes zusammengeschlossen haben. «Wir kämpfen dafür, dass die Täter endlich juristisch belangt werden», erklärt deren Vorsitzende Kathunga Furaha Cathy. Die Juristinnen informieren Vergewaltigungsopfer über ihre Rechte, begleiten sie auf deren Wunsch auch vor Gericht. Die Anwältinnen der Organisation scheuen weder die Konfrontation mit den Staatsanwälten, die ihrer Überzeugung nach immer noch viel zu wenig tun, noch mit den Tätern. Damit gehen sie ein hohes persönliches Risiko ein, ebenso wie die Frauen von Fepsi. Denn die Täter kennen ihre Gegnerinnen und drohen ihnen offen, etwa mit Kurznachrichten aufs Handy. «Aber bisher haben sie ihre Drohungen zum Glück noch nie wahr gemacht», sagt Masika Kafanya.

Insgesamt werden die politischen Auseinandersetzungen im Kongo härter. Im Januar gingen Hunderte in der Provinzhauptstadt Goma und in der Hauptstadt Kinshasa auf die Strasse. Sie protestierten gegen den Versuch von Präsident Joseph Kabila, seine Amtszeit durch eine Änderung des Wahlgesetzes zu verlängern. Während der tagelangen Demonstrationen wurden nach Angaben der Opposition mehr als 40 Menschen ermordet, über 350 verhaftet. Die Amtszeit des jetzigen Präsidenten endet im Dezember 2016. Vorher stehen noch Gemeinde- und Provinzwahlen an. «Die politische Gewalt wird deshalb wohl in den kommenden Monaten zunehmen», meint Moise Kambere Kayitavubya, Präsident von Gadhop, dem Dachverband von Menschenrechtsorganisationen in Butembo.

Er schliesst nicht aus, dass auch die jüngste Terrorwelle rund um die Stadt Beni mit den Wahlen in Zusammenhang steht. Auch Gadhop fordert deshalb einen Untersuchungsbericht der Regierung. «Gleichzeitig versuchen wir, vor Ort selbst zu ermitteln.» Ein gefährliches und schwieriges Unterfangen.

Trotz aller Gewalt sieht Kambere Kayitavubya auch positive Entwicklungen: «Nach den Massakern der vergangenen Monate wäre es nicht überraschend, wenn die Menschen neue Selbstverteidigungsgruppen gründeten», erklärt der Menschenrechtsaktivist. «Aber die Folge wären noch mehr Milizen, noch mehr Gewalt.» Stattdessen organisieren die Menschen diesmal friedliche Proteste: gegen die Uno-Blauhelmmission, weil diese die Bevölkerung nicht schützt. Und gegen die kongolesische Regierung, die gravierende Menschenrechtsverletzungen tatenlos zur Kenntnis nimmt. «Die Bevölkerung stellt jetzt politische Forderungen», sagt Kambere Kayitavubya. «Wir wollen keine weitere Gewalt, wir sind der vielen Kriege müde.»

22 000 Blauhelme

Der Konflikt im Osten der Demokratischen Republik Kongo hält seit mehr als zwanzig Jahren an. Gekämpft wird um den Zugang zu Land, um Rohstoffe, um politische Macht. An den ständigen Kämpfen ändert auch die Präsenz der 22 000-köpfigen Uno-Mission Monusco nichts. Die Region rund um die Stadt Beni wird seit Herbst 2014 von einer regelrechten Terrorwelle überzogen. Nach offiziellen Angaben wurden bereits mehr als 300 Menschen ermordet.

Ein Mitarbeiter des Monusco-Menschenrechtsbüros hält diese Zahl sogar für stark untertrieben: Er geht von Tausenden von Opfern aus.