Sachbuch «Kommunismus nach 1989»: Hellsichtiger Blick auf den Osten Europas
Vor 1989 war er Dissident in Ungarn, heute ist er es wieder: Das Leben von G. M. Tamas ist alles andere als gradlinig verlaufen. Erstmals erscheinen einige seiner Texte auf Deutsch.
Mit sieben Jahren war Gaspar Miklos Tamas mit der Weltpolitik bestens vertraut. Er hörte die ungarischen Programme von BBC World und fasste sie für seine Eltern zusammen; der vietnamesische Revolutionär Ho Chi Minh war ihm genauso ein Begriff wie der indische Ministerpräsident Nehru. Das war im Jahr 1955, der Siebenjährige lebte mit seinen Eltern im siebenbürgischen Cluj/Kolozsvar. «Ich hatte keine Ahnung, dass ich anders als andere Buben war.»
Tamas’ Familie war auch sonst nicht alltäglich: Die Mutter stammte aus einer orthodoxen jüdischen Familie, der Vater, sieben Jahre jünger, war Sohn eines christlichen Schneiders. Getroffen hatten sich die beiden in der kommunistischen Partei, die nun, nach dem Zweiten Weltkrieg, in Rumänien an der Macht war – trotzdem warteten sie das ganze Leben darauf, von der Geheimpolizei abgeholt zu werden. Ihrem Sohn erklärten sie schon früh, mit welchen mentalen Tricks er Folter am besten überstehen könnte.
So weit kam es dann nicht. Der junge Gaspar Miklos bekam zwar tatsächlich Probleme mit Nicolae Ceausescus Diktatur, aber er wanderte rechtzeitig aus. Nicht etwa in den Westen, sondern nach Ungarn, wo das Klima nicht ganz so düster war wie in Rumänien und er wenigstens wegen seiner ungarischen Muttersprache keine Nachteile befürchten musste. Doch bald bekam er auch in Ungarn Publikationsverbot und war zehn Jahre arbeitslos, bis er 1989 ins Parlament gewählt wurde.
Kuriose Allianzen
Während sich manche ehemalige DissidentInnen ganz auf die Seite von USA und Nato schlugen, ging Tamas einen anderen Weg: nach links. Ernüchtert von «unserem naiven Liberalismus» und seinen Folgen in Osteuropa, wandte er sich dem Marxismus zu – und verlor einen grossen Teil seiner Freunde. Er fand neue in jüngeren Generationen, in den neuen linksradikalen Bewegungen Rumäniens und Exjugoslawiens. Heute ist Tamas ein unermüdlicher Publizist und Referent, der neben Ungarisch und Rumänisch auch fliessend Englisch, Französisch und Deutsch spricht. «Heute scheine ich mir den Hass meiner eigenen Landsleute zuzuziehen, da ich als Sympathisant von Roma, Einwanderern, Schwulen und so weiter gesehen werde – Gleichheit wird also, anders als in anderen Zeiten der Geschichte, als den Interessen der Mehrheit feindlich wahrgenommen.»
Der Wiener Mandelbaum-Verlag hat nun ein Buch mit vier langen Texten herausgegeben, die Tamas, der als Autor seine Vornamen immer abkürzt, auf Englisch für linke Zeitschriften verfasst hat. Die realsozialistischen Regimes, ihr Zusammenbruch und die Folgen sind ein zentrales, aber längst nicht das einzige Thema. Ergänzt werden die Texte von zwei Interviews mit dem Autor.
Kein 1848 im Osten
Der zugänglichste Text, «Zweihundert Jahre Krieg», während der Nato-Bombardierungen Serbiens 1999 geschrieben, geht der Frage nach den Kriegsgründen in Exjugoslawien nach. In einer brillanten Analyse zeigt Tamas, dass die Geschichte in Mittel-Osteuropa völlig anders verlief als in Westeuropa: Es gab kein 1848, keine bürgerliche Revolution, sondern im Zuge des aufgeklärten Absolutismus Modernisierungen und Reformen, die das österreichisch-ungarische Kaiserreich von oben durchzusetzen versuchte. Dagegen bildeten sich kuriose Allianzen aus regionalen Adligen und der bäuerlichen Bevölkerung, aber es entstand keine aufgeklärte Mittelschicht.
Da das Kaiserreich nationalistische Aufstände fürchtete, durften die verschiedenen Ethnien im «Vielvölkerstaat» zwar Folklore betreiben, aber auf keinen Fall separatistische Politik. Die Kultur wurde sauber von der Politik getrennt, und sehr ähnlich hielten es später auch die realsozialistischen Staaten Sowjetunion und Jugoslawien. «Als das Zentrum verschwand, verschwand ebenso Politik, wie sie bisher verstanden worden war, und Ethnizität blieb der einzige Brennpunkt.»
Warum der Westen heuchlerisch wirkt
Tamas setzt viel voraus. Mit Ausnahme von «Zweihundert Jahre Krieg» sind die Texte in diesem Buch sehr anspruchsvoll zu lesen, beziehen sich auf Dutzende von AutorInnen und vertrackte innermarxistische Diskussionen. Man merkt, dass dieser Mann Jahre mit Büchern verbracht hat.
Schade auch, dass Antworten auf die Frage fehlen, die sich bei einer solchen Biografie aufdrängt: Wie stellt sich Neomarxist Tamas, der die Repression in den realsozialistischen Staaten miterlebt hat, einen anderen, besseren Sozialismus vor?
Trotzdem – auch wer nicht alles versteht, stösst immer wieder auf enorm erhellende Passagen. Etwa wenn der Autor eine Erklärung dafür sucht, warum rechtsextreme Ideen in vielen ehemaligen Ostblockländern Anklang finden und der westliche Liberalismus dagegen keinen Stich hat: «Ungleichheit wird nicht als selbstverständlich vorausgesetzt, und so geschieht es, dass die einzige Kraft (der Postfaschismus), die für Ungleichheit Legitimierung bietet, ein grosses Auditorium finden kann. Die liberalen Antworten auf den Postfaschismus sind unbefriedigend, weil sie die eine Art von Ungleichheit bestätigen (die Konkurrenz), während sie die andere kritisieren (die rassistische und ethnizistische), was ihre egalitären Ansprüche unterminiert und so als heuchlerisch erscheinen lässt – was sie vielleicht auch sind.»
Und allein das lange Interview am Anfang lohnt schon die Lektüre des kleinen Buches. Selten hat jemand den Ostblock und den Umbruch seit 1989 so genau und hellsichtig analysiert.
G. M. Tamas: Kommunismus nach 1989. Beiträge zu Klassentheorie, Realsozialismus, Osteuropa. Herausgegeben und übersetzt von Gerold Wallner. Mandelbaum Verlag. Wien 2015. 252 Seiten. 27 Franken