Selbstorganisiertes Lernen: Befreit vom Druck der Selektion

Nr. 37 –

In der Stadtberner Lorraineschule lernen die Siebt- bis NeuntklässlerInnen teilweise selbstständig in alters- und leistungsgemischten Gruppen. Das verbessert die Bildungschancen der schwächeren SchülerInnen.

Heute, in der zweitletzten Woche vor den Sommerferien, ist nur gut die Hälfte der Klasse da. Kein Grund zur Beunruhigung für Dres Kohler, der seit vielen Jahren als Oberstufenlehrer an der Lorraineschule in Bern unterrichtet. Ein Teil seiner neunzehn SekundarschülerInnen ziehe einen der übrig gebliebenen fünf Halbtage ein, die jedes Schuljahr für Familienfeste zur Verfügung stehen – oder eben auch, um mal ausschlafen zu können. «Diese Freitage geben den Schülern einen gewissen Freiraum», meint Kohler.

Vieles läuft in der Sekundarschule im Berner Lorrainequartier ein bisschen freier ab als an gewöhnlichen Schulen. Kohlers Klasse ist denn auch kein üblicher Klassenverband, sondern eine Gruppe aus SchülerInnen, die sich sowohl in ihrem Alter als auch bezüglich ihres Leistungsniveaus unterscheiden. Im sogenannten SE-Unterricht – die Abkürzung steht für selbstorganisiertes Lernen – erfüllen die SchülerInnen selbstständig Lernaufträge aus den verschiedenen Fächern. Zu Beginn der Woche erhalten sie farbige Zettel im Format A5, auf denen die Aufgaben, das benötigte Material sowie die Abgabedaten notiert sind. Je nach individueller Einstufung erhalten die Jugendlichen Aufträge auf Real- oder Sekundarniveau. Diese erledigen sie alleine oder gemeinsam mit andern – beispielsweise in Lernteams, die aus sechs bis sieben SchülerInnen bestehen und zu Beginn des Schuljahrs gebildet werden.

Diese freie Form des Unterrichts umfasst jeweils die ersten zwei Stunden jedes Schultags. Die weitere Unterrichtszeit verbringen die SchülerInnen in der Jahrgangsklasse, der siebten, der achten oder der neunten. Allerdings lernen sie auch da nur in wenigen Lektionen getrennt nach Real- und Sekundarniveau, wie es an andern Berner Schulen der Sekundarstufe üblich ist. Inhaltlich unterscheidet sich der Unterricht in den Jahrgangsklassen nicht vom konventionellen Unterrichtsstoff.

Noch sitzen alle an ihren Plätzen, als die erste Schulstunde beginnt. «Wer geht heute ans Omeletteessen des Kindergartens? Wer möchte den Parcours in Natur – Mensch – Mitwelt machen?» Nachdem das Organisatorische geklärt ist, wechselt die heute ebenfalls anwesende Heilpädagogin mit einem Teil der Jugendlichen in einen benachbarten Raum. Andere holen mit Dres Kohler im Büro neue Lernaufträge. Jemand pfeift eine Melodie, ein Junge fragt ein Mädchen: «Machst du heute auch Französisch?»

Kurz darauf kommt Kohler zurück und schlägt einen Triangel. Der Ton kündigt die «Schweigezeit» an, in der die SchülerInnen an ihrem jeweiligen Platz Übersicht gewinnen, Konzentration finden und gut in den Tag starten sollen. Die Tür des Schulzimmers steht offen, noch ist viel Bewegung in der Klasse. Doch bis der Triangel zum zweiten Mal erklingt, ist die Atmosphäre im Raum spürbar ruhiger und konzentrierter, der Geräuschpegel niedriger. Das ändert sich auch nicht, wenn Kohler zwischendurch kurz das Zimmer verlässt. «Die Schülerinnen und Schüler sehen das Lernen als ihre eigene Angelegenheit», sagt er, «da braucht es weniger disziplinarische Massnahmen.» Teilweise ist es so still, dass das Ticken der Wanduhr hörbar ist.

Leitplanken für die Schwächeren

Natürlich gibt es auch Kinder, die Mühe mit der freieren, weniger angeleiteten Unterrichtsform bekunden. Dres Kohler betont aber, dass der Unterricht stärker strukturiert ist, als er auf den ersten Blick erscheint. Denn keinesfalls gehe es darum, die SchülerInnen sich selbst zu überlassen. Die Selbstgestaltung im Lernprozess wird von den LehrerInnen eng begleitet. Insbesondere die schwächeren SchülerInnen, so Kohler, seien auf Leitplanken angewiesen.

Für einige sei es eine grosse Herausforderung, die Lernaufträge über die Woche zu verteilen, sagt etwa Julian Wullschleger. Der junge Seklehrer unterrichtet seit zweieinhalb Jahren an der Lorraineschule. Auch der Raumwechsel sei für die Jugendlichen teilweise schwierig, sagt er: «Was muss ich alles mitnehmen, habe ich meine Schreibsachen?» Umgekehrt fördert das Schulmodell die Eigenständigkeit der SchülerInnen nicht nur, es belohnt sie auch. Wer «ohne direkte Aufsicht zielstrebig und konzentriert lernen kann» – so ein Merkblatt, das im Klassenzimmer hängt –, darf beim LehrerInnenteam einen Lernpass beantragen. Mit ihm können die SchülerInnen neben dem Klassenzimmer den gesamten zweiten Stock des Schulgebäudes als Arbeitsraum nutzen.

«Gut» und «schlecht» gibt es nicht

Das Lernforum Lorraine, das die drei Klassen der Sekundarstufe I im Lorraineschulhaus umfasst, ist Teil des Verbands der Mosaik-Sekundarschulen, einem seit 2009 bestehenden Zusammenschluss von mittlerweile 21 Schulen in der Schweiz, die alters- und leistungsgemischte Klassen führen. In diesen Klassen arbeiten die SchülerInnen eigenständig an individuellen Aufträgen und werden dabei von den LehrerInnen begleitet. Aus den bisherigen Unterrichtserfahrungen schliesst der Verband, dass die Eigenverantwortung die intrinsische Motivation fördere und sich die Gemeinschaft von jüngeren und älteren SchülerInnen positiv auf die sozialen Fähigkeiten der SchülerInnen auswirke.

«Im Frontalunterricht merkt man oft nicht, wenn jemand nicht mitkommt», erinnert sich Wullschleger. Dabei sollte es doch das Ziel einer Schule sein, dass alle SchülerInnen etwas lernen. Das klingt banal, ist aber an vielen Schulen nicht selbstverständlich. Prüfungen etwa, so Wullschleger, dienten nur allzu oft dazu, die SchülerInnen in «gut» und «schlecht» einzuteilen – und nicht dazu, den jeweiligen Lernstand einschätzen zu können. «Bei Wiederholungsprüfungen geht es meist darum, den Notendurchschnitt anzuheben. Aber viel wichtiger ist doch, dass alle bestimmte Grundanforderungen erreichen.» Im SE-Unterricht braucht es grosse Sensibilität, um den jeweiligen Lernstand der SchülerInnen richtig zu erfassen. Gleichzeitig lässt sich mit dieser Art des Unterrichts aber auch der Lernstoff individuell an die Jugendlichen anpassen – und nicht umgekehrt.

Die Einteilung in «gute» und «schlechte» SchülerInnen geschieht in der Schweiz oft schon vor der Sekundarstufe. Dies, obwohl die Selektion auf die einzelnen SchülerInnen nicht nur einen enormen Druck ausübt, sondern zudem auch soziale Unterschiede zwischen den SchülerInnen verfestigt. Erziehungswissenschaftler Winfried Kronig konnte etwa nachweisen, dass schwächere SchülerInnen in einer leistungsstarken Klasse grössere Lernfortschritte machen.

Auf die Erkenntnisse aus Kronigs Untersuchungen stützt sich auch der bildungspolitische Verein Volksschule ohne Selektion (VSOS). Mit politischen Vorstössen, öffentlichen Veranstaltungen und Beratungsangeboten möchte der Verein ein Schulsystem verändern, das «zu früh und zu stark selektioniert und dabei viele Verlierer schafft» (vgl. Interview im Anschluss an diesen Text). Entgegen der weitverbreiteten Überzeugung, dass der erreichte Bildungsgrad vor allem auf individuellen Leistungen basiere, reproduziert die Schule auch heute noch weitgehend die bestehende sozioökonomische Schichtung. Die Mobilität zwischen den sozialen Klassen ist in der Schweiz gering, wie eine kürzlich publizierte Studie zeigt. Und das, so Julie Falcon von der Universität Lausanne, die bei der Untersuchung mitwirkte, habe in erster Linie damit zu tun, «dass der Zugang zu unterschiedlichen Bildungsniveaus weiterhin massgeblich von der sozialen Herkunft abhängt». Schulen tragen wesentlich zum Fortbestand der gesellschaftlichen Ungleichheit bei.

Zufriedene Eltern

Genau diesem Mechanismus wirkt eine späte Selektion, wie sie im Lernforum Lorraine praktiziert wird, entgegen. Noten gibt es hier zwar auch, sie spielen aber eine kleinere Rolle, wie Dres Kohler betont. Vielmehr kann im Halbjahrestakt das Niveau gewechselt werden, und zwar ohne dass gleich die Klasse oder gar die Schule gewechselt werden müsste. Damit werde der Tatsache Rechnung getragen, dass ein Kind nicht in jeder Lebensphase gleich leistungsfähig sei, sagt Julian Wullschleger: «Es ist illusorisch, in der sechsten Klasse die Schullaufbahn eines Kindes vorauszubestimmen.»

Die Noten am Ende der neunten Klasse entscheiden wie in anderen Sekundarschulen über die weiteren Ausbildungsmöglichkeiten. Einigen NeuntklässlerInnen wird im Eingangsbereich der Schule auf Plakaten zur Lehrstelle gratuliert: als Landschaftsgärtner, Detailhandelsfachfrau, Chemielaborant. Andere werden im nächsten Jahr das zehnte Schuljahr absolvieren oder die Fachmittelschule besuchen.

Eine Mutter aus der Nachbarschaft erzählt, ihr vierzehnjähriger Sohn werde nach dem Abschluss an der Lorraineschule wohl eine Lehre in Angriff nehmen. Bisher gingen zwei ihrer Kinder in die Lorrainesek, beide hätten gute Erfahrungen gemacht, sagt die Mutter – auch die Tochter mit ihrer Lese- und Rechtschreibschwäche. Die LehrerInnen setzten sich dafür ein, für jedes Kind individuelle Lösungen zu finden.

Sie bedauert es, dass ihre älteste Tochter in eine andere Sekundarschule musste: «Dort war das Leistungsprinzip viel präsenter. Schon am Elternabend der siebten Klasse wurde das Gymnasium als Königsweg gepriesen.» In der Lorraineschule würde auch anderen Bildungswegen Anerkennung entgegengebracht. SchülerInnen würden nicht abgewertet, wenn die Leistungen nicht fürs Gymi reichten.

Im Lorraineschulhaus sind niveaugemischte Klassen bereits 1994 eingeführt worden. Claudia Wiesmann hat die Entstehung und Entwicklung des Lernforums Lorraine von Beginn an miterlebt. «Die Umstellung war ein Chrampf», sagt sie, «aber inzwischen arbeite ich nicht mehr als vorher.» In der Umstellungsphase mussten in den einzelnen Fächern Lernaufträge für den selbstorganisierten Unterricht erstellt und auf den Frontalunterricht abgestimmt werden. Mittlerweile können die LehrerInnen auf einen gemeinsamen Stock an Material zurückgreifen. Das Schwierigste sei wohl gewesen, die Verantwortung für das Lernen an die SchülerInnen abzugeben, meint Wiesmann rückblickend.

SchülerInnen zu LehrerInnen

Dafür nehmen die Besprechungen im Team mitunter viel Zeit in Anspruch. Für Julian Wullschleger ist diese enge Zusammenarbeit im Team ein grosser Vorteil. «Hier zeigen alle Lehrerinnen und Lehrer ein riesiges Engagement für die Schule», sagt er. «An anderen Schulen sind einzelne Lehrpersonen für die Situation im Klassenzimmer verantwortlich», erinnert er sich an frühere Erfahrungen. «In der Lorraine besprechen wir Probleme immer gemeinsam. Das verhindert, dass man allein gelassen wird, und entlastet uns stark.»

In Claudia Wiesmanns Klasse arbeiten die Jugendlichen an Pulten entlang der Wände. Eine Schülerin sitzt am Computer, eine andere schneidet Bilder aus, zwei lösen gemeinsam Französischaufgaben. «Die Schülerinnen und Schüler kommen von sich aus mit ihren Fragen», sagt Wiesmann. «Wenn ich zum Beispiel in Mathe eine Frage nicht beantworten kann, schicke ich sie zu einem Kollegen, der dieses Fach unterrichtet. Gerne erklären sie mir anschliessend, was sie herausgefunden haben.» In der Lorraineschule werden die SchülerInnen auch mal selbst zu LehrerInnen. Dafür sorgt schon der Erfahrungsvorsprung der Älteren. Wenn die SiebtklässlerInnen im neuen Schuljahr neu am Oberstufenunterricht teilnehmen, werden sie von den andern SchülerInnen eingeführt.

Die zwei Lektionen sind fast um. Wiesmann klingelt mit einem Glöckchen. Zeit, einen Eintrag ins Lerntagebuch zu machen. In den Tagebüchern reflektieren die Jugendlichen ihren eigenen Lernprozess, tragen sich Hausaufgaben ein, kleben ihre Lernaufträge ein. Die Einträge werden regelmässig mit den LehrerInnen besprochen. Vor dem Verlassen des Zimmers zeigen die SchülerInnen Wiesmann den Eintrag und verabschieden sich mit Handschlag.

Eine Volksschule ganz ohne Selektion

WOZ: Frau Baltensperger, Sie engagieren sich für eine Volksschule ohne Selektion. Gegen welche Art der Selektion wenden Sie sich, und warum ist diese schlecht?
Eva Baltensperger: Hier in der Schweiz ist vor allem die rigide Selektion nach der sechsten Klasse ein grosses Problem. Oft ist nicht das Potenzial der Kinder entscheidend für die Zuteilung in die Real- oder die Sekundarschule.

Sondern?
Eine zentrale Rolle spielen Bildungsniveau und sozioökonomischer Hintergrund der Eltern. Andere Faktoren wie der Wohnort kommen hinzu. So hat ein politischer Vorstoss aus dem Jahr 2008 gezeigt, dass das Verhältnis von Real- und Sekundarschülern in den Berner Gemeinden sehr unterschiedlich ist: In der einen Gemeinde gehen 85 Prozent der Jugendlichen in die Real, in der anderen kommen 85 Prozent in die Sek. Mir war klar: Das kann kaum daran liegen, dass die Kinder je nach Wohnort unterschiedlich intelligent sind.

Woran liegt es also?
In diesem Fall spielt das Angebot an Schulen eine Rolle: Gerade auf dem Land besuchen Kinder meist jene Schule, die ihrem Wohnort am nächsten liegt. Wenn es keine Sekundarschule gibt, gehen sie halt in die Realschule. In anderen Fällen geben Lehrpersonen keine Empfehlung für die Sek, weil sie den Eltern nicht zutrauen, das Kind bei Schulproblemen unterstützen zu können. Diese Kinder besuchen dann ungeachtet ihres Potenzials die Realschule, wo die Benachteiligung systembedingt ihren Lauf nimmt. Besonders störend ist, dass Realschüler im Kanton Bern bis vor kurzem weniger Lektionen als Sekschüler und keinen obligatorischen Englischunterricht hatten. Die propagierte Durchlässigkeit war damit stark eingeschränkt.

Sind Jugendliche umgekehrt nicht völlig überfordert, wenn sie erst nach dem Ende der obligatorischen Schulzeit mit dem strengen Selektionssystem in der Berufswelt oder dem Gymnasium konfrontiert werden?
Es macht einen grossen Unterschied, ob Schüler bereits im Alter von zwölf Jahren oder erst mit fünfzehn eingeteilt werden. Erfolgt die Selektion später, konnten sie mehr Selbstvertrauen aufbauen, anstatt unter Umständen bereits zu Beginn ihrer Pubertät in eine Versagerrolle hineinzugeraten.

Der Verein Volksschule ohne Selektion (VSOS) ist seit 2009 aktiv. Was konnten Sie seither erreichen?
Unser Hauptanliegen ist es, über diverse Kanäle die Vorteile und die Notwendigkeit der selektionsfreien Schule bekannt zu machen. So haben wir über den Weg der Vernehmlassung im einen oder anderen Punkt erfolgreich Einfluss auf die aktuelle Bildungsstrategie des Kantons Bern genommen. Dennoch: Von der Abschaffung der Selektion sind wir weit entfernt. Ich habe aber den Eindruck, dass unter den Lehrerinnen und Lehrern das Bewusstsein für die problematischen Aspekte der Selektion zugenommen hat.

Und der Ton in der politischen Debatte hat sich verändert. Als ich 2008 als Berner Grossrätin eine Motion zum Thema einreichte, bekam ich zu hören: «So einen Blödsinn habe ich noch nie gehört.» Da ist man heute zumindest in Bern differenzierter.

Interview: Rahel Locher