Die Türkei und Europa: Islamabad am Bosporus

Nr. 42 –

Täglich kommen News und Analysen aus Ankara. Wer steckt hinter dem Doppelanschlag, bei dem am Samstag fast 100 FriedensdemonstrantInnen getötet und über 500 verletzt wurden? Eigentlich egal – letztlich ist auf jeden Fall die konservative Regierung verantwortlich. Auf jeden Fall ist spätestens jetzt die nahöstliche Dynamik des Staatszerfalls am Bosporus angekommen. Und auf jeden Fall kommt deshalb auch auf Europa ein neues Problem zu: Sollte die Türkei zerfallen, würde ein wichtiger Erfüllungsgehilfe im Nahen Osten ausfallen.

Wahrscheinlich hat eine Zelle des Islamischen Staats (IS) den Doppelanschlag ausgeführt, vielleicht hatten auch noch Zellen im Umfeld von Armee und Geheimdienst ihre Finger im Spiel. Sicher ist, dass bei der angekündigten Grossdemonstration kaum Sicherheitskräfte zugegen waren, obwohl die Regierung dauernd eine zunehmende Terrorgefahr beschworen hatte. Die beiden angeblichen Täter, die am Mittwoch identifiziert wurden, kommen aus dem gleichen IS-Umfeld wie der Attentäter von Suruc, wo im Juli 33 prokurdische DemonstrantInnen ums Leben kamen. Konsequenzen aus Suruc wurden keine gezogen, weitere Anschläge in Kauf genommen. Denn im Wahlkampf kann die Regierungspartei um Präsident Recep Tayyip Erdogan von der sichtbaren Terrorgefahr profitieren.

Am Montag kamen auch folgende News aus der Türkei – oder eigentlich aus Islamabad: Die pakistanische Nachrichtenagentur verkündete, der Armeechef Pakistans sei in Ankara mit allen Ehren empfangen worden. General Raheel Sharif habe dem türkischen Amtskollegen versichert, dass Pakistan seinem «Bruderland» beistehe. Beide Länder stünden vor ähnlichen Herausforderungen, die sie mit einer «gemeinsamen und kohärenten Vorgehensweise» meistern sollten. Die Aufarbeitung des Anschlags und der Quasistaatsbesuch des pakistanischen Armeechefs (der zusammen mit dem Premierminister faktisch das Land lenkt): Dass beides gerade jetzt in Ankara zusammentrifft, ist ein Zufall. Kein Zufall ist hingegen, dass die beiden «Bruderländer» gerade jetzt von einer ähnlichen Strategie in der Terrorbekämpfung reden. Denn Erdogan hat in den letzten Jahren ein ähnlich desaströses Doppelspiel getrieben wie die pakistanischen StaatsführerInnen der letzten Jahrzehnte.

In Pakistan war es um die Förderung der Taliban und anderer sunnitischen Terrorgruppen gegangen, um im Nachbarland Afghanistan strategische Interessen zu verfolgen. Das lief aber aus dem Ruder, nachdem diese Gruppen dort so stark geworden waren, dass sie anfingen, in Pakistan ihre eigenen Ziele zu verfolgen: etwa schiitische Moscheen in Karachi zu attackieren und den pakistanischen Staat zu destabilisieren.

In der Türkei geht es um die Förderung oder zumindest die fahrlässige Duldung des IS und anderer sunnitischer Terrorgruppen wie der Al-Nusra-Front, um im Nachbarland Syrien strategische Interessen zu verfolgen – insbesondere gegenüber den dort erstarkten KurdInnen. Das läuft ebenfalls aus dem Ruder, seit die Terrorgruppen so stark geworden sind, dass sie nun auch in der Türkei ihre eigenen Ziele verfolgen: etwa wie letztes Jahr in Istanbul schiitische Moscheen zu attackieren und den türkischen Staat zu destabilisieren.

Eine weitere Newsmeldung wird am Sonntag aus Ankara und Berlin kommen: Die deutsche Regierungschefin Angela Merkel wird dann in der türkischen Hauptstadt höchstwahrscheinlich mit allen Ehren empfangen worden sein. Dass danach die Krise der Türkei, die auch eine Krise Europas ist, eine ehrenvolle Wendung nimmt, ist allerdings unwahrscheinlich. Die europäischen Staaten haben stark auf die Türkei gesetzt, als Puffer zu Syrien und dem ganzen Nahen Osten, als Aufnahmeland von Millionen Flüchtlingen. Den USA dient die Türkei als Luftwaffenbasis für Einsätze in Syrien und im Irak.

Die USA haben mit Pakistan als kriselndem und doppelgesichtigem Alliierten einschlägige Erfahrungen gemacht. Die EU-Staaten, die von der Türkei viel stärker abhängig sind, müssten eigentlich daraus lernen.