Eritrea: «Wir haben ein Monster geboren»

Nr. 42 –

Viele idealistische EritreerInnen kämpften vor Jahren für die Unabhängigkeit ihres Landes. Daraus entstand ein Unrechtsregime sondergleichen. Zwei Flüchtlinge erzählen, wie sie damit umgehen.

Wenn Elias Habteselassie dieser Tage vor dem Fernseher sitzt, quälen ihn die immer gleichen Bilder: Bilder von überfüllten Flüchtlingsbooten und Menschen, die um ihr Leben ringen. Manchmal auch von denen, die diesen Kampf verloren haben. «Das zu sehen, ist für viele von uns Eritreern unglaublich deprimierend», sagt der 73-Jährige.

Habteselassie hat sein Heimatland schon vor vielen Jahren verlassen und lebt in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. In den eritreischen Restaurants der Stadt diskutieren die BesucherInnen regelmässig über die politische Lage «zu Hause». Die Flüchtlingskrise ist auch für sie ein ständiges Thema: Eritrea hat im Mittelmeer mehr Todesopfer zu beklagen als jedes andere afrikanische Land. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen machen sich jeden Monat 5000 weitere EritreerInnen auf den oft lebensgefährlichen Weg. Die meisten flüchten ins Nachbarland Äthiopien und in andere afrikanische Länder, manche gelangen nach Nairobi.

Doch selbst hier fürchten viele den langen Arm der eritreischen Regierung, fühlen sich durch die MitarbeiterInnen der eritreischen Vertretungen auch im Ausland verfolgt. Deshalb trauen sich die wenigsten von ihnen zu reden. Habteselassie ist eine Ausnahme. Der Jurist und Agrarwissenschaftler hat jahrzehntelang für die Vereinten Nationen gearbeitet, hat einen niederländischen Pass. Das ist viel wert, denn einen Europäer lässt niemand so einfach verschwinden. Deshalb kann Habteselassie offener sein als die meisten anderen EritreerInnen. Er sitzt im Wohnzimmer seines Reihenhauses in einem der grünen Randbezirke von Nairobi. «Wir können nicht zurückkehren, um unsere Heimat wieder aufzubauen. Stattdessen flieht nun auch noch die junge Generation. Ein Land ohne Jugend hat keine Zukunft.»

Rund 7000 politische Häftlinge

Als Achtzehnjähriger wurde Habteselassie Mitglied der Eritreischen Volksbefreiungsfront EPLF. Im politischen Flügel der Bewegung kämpfte er für die Unabhängigkeit Eritreas von Äthiopien. Aber schon in den siebziger Jahren kamen ihm erste Zweifel. Immer mehr Parteimitglieder wurden als «Abweichler» und «Konterrevolutionäre» verunglimpft und exekutiert. Anfangs hoffte Habteselassie, dass sich die EPLF nach dem militärischen Sieg 1991 verändern und ein friedliches Eritrea ermöglichen würde. Heute weiss er: Er war naiv. «Viele von unseren Freunden und früheren Kampfgefährten sind mittlerweile im Gefängnis», bilanziert er. «Es gibt zurzeit schätzungsweise 7000 politische Gefangene. Aber niemand kann sagen, wie viele von ihnen überhaupt noch am Leben sind.» Denn nicht einmal das Rote Kreuz darf in Eritrea Gefangene besuchen.

Anfang Juni 2015 veröffentlichten die Vereinten Nationen einen Bericht über die Menschenrechtslage in Eritrea. Das Fazit: Willkürliche Verhaftungen, Folter und Zwangsarbeit sind weitverbreitet. Tausende EritreerInnen sitzen ohne Anklage oder Aussicht auf ein Gerichtsverfahren in Haft. Im Gefängnis zu sterben, ist hier üblich. Gründe dafür sind Misshandlungen, Folter, Hunger und fehlende medizinische Versorgung. Einige der Menschenrechtsverletzungen seien möglicherweise als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen. Die eritreische Regierung unter Präsident Isayas Afewerki, einst Führer der EPLF, weist solche Vorwürfe regelmässig zurück. Das seien «Hirngespinste», sagte er gegenüber dem katarischen TV-Sender Al Jazeera.

Umfassende Militarisierung

Zu den Missständen, die von den Uno-ErmittlerInnen moniert wurden, gehört die umfassende Militarisierung der Gesellschaft. Der Wehrdienst ist für Männer und Frauen Pflicht. «Er dauert vom 18. bis zum 50. Lebensjahr oder auch länger», sagt die Politologin Nicole Hirt. Sie ist Mitarbeiterin am Giga-Institut für Afrikastudien in Hamburg und forscht seit vielen Jahren zu Eritrea. Neuerdings müssen laut Hirt auch ältere Menschen über sechzig ein militärisches Training absolvieren und dann mit Kalaschnikows in der Nachbarschaft patrouillieren. «Es gibt sogar Bilder von Achtzigjährigen, die zum Dienst mit der Waffe gezwungen werden.» Schon die zwölfte Schulklasse findet in einem militärischen Ausbildungslager statt. Danach folgt nahtlos der sogenannte Nationaldienst. Der umfasst auch die Arbeit auf Plantagen, in der Infrastruktur, in der Lehre, in Krankenhäusern und anderswo. Statt einer Bezahlung bekommen die RekrutInnen ein Taschengeld: Von den umgerechnet elf Franken im Monat kann auch in Eritrea niemand leben.

Die umfassende Militarisierung hat dramatische Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage Eritreas: Für die Arbeit in der Landwirtschaft und in anderen Wirtschaftsbereichen stehen keine kräftigen Menschen zur Verfügung. Vom System profitieren nur die politischen Kader und die Militärs. Denn den Ertrag beispielsweise der Plantagen, auf denen Rekruten laut Habteselassie «wie Sklaven» arbeiten müssen, streichen häufig Generäle persönlich ein.

Es ist dieser verordnete, unter Umständen lebenslange Militär- und Nationaldienst, der viele in die Flucht treibt. Neben Schweden oder der Schweiz ist Israel eines der Zielländer (vgl. «Unklarer Status» im Anschluss an diesen Text). Viele der Flüchtlinge stranden in Tel Aviv. Am späten Abend sieht man sie in der unwirtlichen Gegend rund um den zentralen Busbahnhof. Simon Seyoum Mengesha geht in ein schäbiges Gebäude hinein, dann die Kellertreppe hinunter. Am Ende liegt ein spärlich beleuchteter Raum. Dort sitzen an einem Tisch schon drei Eritreer und eine Eritreerin. Die Spuren der Folter sind bereits auf den ersten Blick erkennbar: die Hände zu Krallen verkrümmt, fehlende Finger, Brandnarben auf den Armen.

Gefoltert wurden sie auf ihrem Weg nach Israel von Menschenschmugglern auf der Sinaihalbinsel oder vorher in den Gefängnissen Eritreas. Umstandslos fängt Mengesha an, über die Situation im ostafrikanischen Land zu reden. «Das sind Kriminelle», sagt er und meint das Regime. «Die Bevölkerung hungert, hat keinen Strom und auch nicht ausreichend Wasser.» Die anderen im Raum stimmen Mengesha zu. Die triste Örtlichkeit ist Sitz einer eritreischen Oppositionspartei. Weil politische Arbeit im Land selbst unmöglich ist, kämpfen sie vom Ausland aus für Veränderung. Mengesha war von 1997 bis 2007 bei der Armee und musste dann im Rahmen des Nationaldienstes als Mathematiklehrer arbeiten. «Ich hätte gerne weiterstudiert, aber sie liessen mich nicht. Ich musste unterrichten.» Bezahlt wurde er dafür nicht.

Haft für eine Frage

An einem Abend vor acht Jahren stellte Mengesha bei einer Versammlung der eritreischen Einheitspartei (der Nachfolgeorganisation der EPLF) eine Frage: «Warum hat Eritrea selbst Jahre nach der Unabhängigkeit noch keine Verfassung?» Noch während der Versammlung wurde Mengesha verhaftet und in ein unterirdisches Gefängnis gebracht. Menschenrechtsorganisationen zufolge gibt es davon viele in Eritrea. Die Gefangenen leben dort monatelang ohne Licht; nur zur Verrichtung ihrer Notdurft dürfen sie bisweilen nach oben. Mengesha wurde regelmässig mit einem Stock geschlagen, am Kinn blieb davon eine Narbe zurück. Morgens wachte er oft neben Leichen auf, Menschen, die in der gemeinsamen Leidenszeit seine Freunde geworden waren. Bis heute träumt er von der Zeit im Gefängnis. Zu überprüfen sind Mengeshas Behauptungen nicht, die eritreische Regierung lässt ausländische BeobachterInnen nicht ins Land.

Nach drei Jahren gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis und über die Grenze in den Sudan. Dort wurde er in einem Flüchtlingslager unter Waffengewalt von ägyptischen Menschenschmugglern gekidnappt und in den Sinai verschleppt. Die ägyptische Halbinsel ist ein faktisch staatenloses Gebiet; Ägypten hat die Kontrolle längst verloren. Mengesha wurde misshandelt und gefoltert, die Entführer verlangten von seiner Familie 3000 US-Dollar Lösegeld – angesichts der heutigen Forderungen eine geradezu bescheidene Summe. Nachdem die Familie gezahlt hatte, wurde er freigelassen und schaffte es bis nach Israel. Dort lebt er nun schon seit mehr als sieben Jahren – inzwischen mit einer abgelaufenen Aufenthaltsgenehmigung.

36 Jahre alt – und am Ende

Am nächsten Abend kommen Mengesha und einige seiner Freunde wieder zum Treffpunkt am Busbahnhof. Wir gehen gemeinsam zu ihrer Wohnung, die ganz in der Nähe liegt. Das Treppenhaus ist eng, ihr Zimmer im zweiten Stock klein und mit Betten vollgestellt. In der Teeküche hängt die schimmlig-feuchte Tapete von der Decke. Das Bad ist winzig und gleichzeitig der Durchgang zum Balkon. Dort steht eine Waschmaschine.

Mengesha wohnt hier mit drei weiteren Eritreern zusammen. Die anderen drei jobben und teilen sich die Miete von umgerechnet 800 Franken im Monat. Mengesha selbst arbeitet nicht; bei einem Job könnte er als Illegaler erwischt werden. Denn seine abgelaufene Aufenthaltsgenehmigung wird nicht mehr verlängert. «Ich bin 36 Jahre alt und mit meinem Leben am Ende», sagt er, während er vom Balkon aus in die dunklen Gassen des Viertels schaut. «Ich kenne meine beiden Kinder kaum, und wenn ich meine Frau in Eritrea anrufe, weint sie jedes Mal. Sie will nicht noch einmal heiraten, sie will auf mich warten – aber bis wann?» Seine einzige Hoffnung ist, dass das Regime eines Tages gestürzt wird. Er rechnet aber damit, dass das noch Jahre dauern kann.

In Nairobi denkt auch Elias Habteselassie ständig über seine Heimat nach. Was ist falsch gelaufen? Wie wird die Zukunft aussehen? «Ich habe so viele Jahre in die Unabhängigkeit Eritreas investiert», sagt er mit spürbarer Traurigkeit. «Ich habe mein ganzes Leben für dieses Land gegeben, habe im Kampf um die Unabhängigkeit viele Freunde verloren. Und am Ende stellen wir fest, dass wir ein Monster geboren haben, das unsere Heimat mit eiserner Faust regiert. Das ist nach alldem eine wirklich bittere Pointe.»

Bettina Rühl ist freie Journalistin. Sie lebt in Kenias Hauptstadt Nairobi.

EritreerInnen in Israel und der Schweiz : Unklarer Status

Nach Schätzungen israelischer Hilfsorganisationen leben etwa 33 000 eritreische Flüchtlinge in Israel. Viele von ihnen wurden in sudanesischen Flüchtlingslagern gekidnappt und verschleppt. Auf der Sinaihalbinsel werden sie meistens schwer gefoltert, damit ihre Angehörigen hohe Lösegelder zahlen. Bis vor zwei Jahren wurden sie nach der Zahlung in die Nähe der israelischen Grenze gebracht. Inzwischen hat Israel aber eine massive Grenzanlage errichtet.

Der Status der meisten eritreischen Flüchtlinge in Israel ist unklar. Die Behörden dürfen sie zwar nicht nach Eritrea abschieben, forcieren aber die sogenannte freiwillige Ausreise: Wenn sie nach Ruanda oder Uganda gehen, bekommen sie eine finanzielle Belohnung. Viele Flüchtlinge haben aber Angst, dass sie dort von eritreischen Sicherheitskräften verhaftet werden. Die wirtschaftliche Not, die allgemeine Feindseligkeit gegenüber afrikanischen Flüchtlingen und der anhaltende politische Druck belasten besonders die Folteropfer in Israel stark.

Letztes Jahr sind rund 35 000 EritreerInnen – meist über das Mittelmeer von Libyen – nach Europa gelangt. Davon ersuchten fast 7000 in der Schweiz um Asyl. Etwa 85 Prozent erhielten entweder Asyl oder wurden vorläufig aufgenommen. Diese sogenannte Schutzquote liegt etwas unterhalb des europäischen Durchschnitts. Gemäss Bundesamt für Statistik lebten Ende 2014 24 005 EritreerInnen in der Schweiz, davon zählen 18 658 zur ständigen Wohnbevölkerung.

Bettina Rühl / Markus Spörndli