Türkei: Wenn ein Präsident den Hass schürt
Nach dem Attentat auf eine Friedensdemonstration in Ankara nimmt die Polarisierung im Land weiter zu. Es drohen neue Gewaltakte.
Abdulkadir Uyan (26) aus Bingöl, Metin Kürklü (53) aus Merzifon, Veysel Atilgan (9) und sein Vater Ibrahim (55) aus Batman – sie alle wollten für den Frieden demonstrieren, jetzt leben sie nicht mehr. Sie und fast hundert weitere Menschen wurden in Ankara in den Tod gerissen. Laut Regierungsangaben waren zwei Selbstmordattentäter am Werk. Die Opferzahl wird vermutlich noch steigen, denn mehr als 500 Menschen wurden verletzt, teils lebensgefährlich.
Zu der Demonstration am vergangenen Samstag in der Nähe des Hauptstadtbahnhofs hatten linke Gruppen, GewerkschafterInnen und die prokurdische Partei HDP aufgerufen. Tausende TeilnehmerInnen wollten für ein Ende der Gewalt und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK demonstrieren. Seit dem Sommer ist der Konflikt wieder voll entflammt, fast täglich werden KämpferInnen der PKK auf der einen Seite und türkische Sicherheitskräfte auf der anderen Seite getötet.
Wut auf Erdogan
Izzettin Cevik, der mit seiner Familie an der Demonstration teilnahm, musste mit ansehen, wie seine Tochter und seine Schwester umkamen. «Wir wollten doch nur Frieden, was anderes wollten wir doch nicht», sagte er später. Das Foto des blutüberströmten Mannes, der seine Frau Hatice in den Armen hält und ins Leere blickt, und Bilder des Jungen Veysel sind zu Symbolen dieses Dramas geworden, die in allen regierungskritischen Medien meist auf den Titelseiten gezeigt wurden. Veysel und sein Vater wurden in ihrem Heimatort Batman beigesetzt. Selahattin Demirtas, Kovorsitzender der HDP, nimmt seit Tagen, sichtlich mitgenommen, an den Bestattungen der Opfer teil. «Der Staat, dem kein Flügelschlag eines Vogels entgeht, war nicht in der Lage, ein Massaker im Herzen von Ankara zu verhindern», sagte Demirtas. Die Regierung müsse für jeden Toten Rechenschaft ablegen.
Das Attentat hat die Nation nicht zu einem nationalen Zusammenrücken geführt. Im Gegenteil: Die Polarisierung nimmt weiter zu. Schon unmittelbar nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Demonstrationen, bei denen die Menschen «Mörderischer Staat!» oder «Erdogan, Mörder» riefen. Denn in die Trauer mischt sich bei vielen Menschen eine grosse Wut auf die regierende islamisch-konservative Partei AKP und deren Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, den sie für das Attentat verantwortlich machen.
Die Regierung ihrerseits hatte nur Stunden nach dem Attentat bereits spekuliert, als mögliche Täter kämen nicht nur Dschihadisten des Islamischen Staats (IS) infrage, sondern auch die PKK oder die linksradikale Gruppe DHKP-C. Auch wenn inzwischen offenbar klar ist, dass die Attentäter dem IS angehörten, versucht die Regierung weiterhin, die PKK in Zusammenhang mit dem Attentat zu bringen: «Wir wissen von PKK-Einheiten, die genau für solche Aktionen in die Türkei geschickt wurden», sagte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Dienstag. Die regierungsfreundliche Presse, also die Mehrheit der Medien im Land, unterstützt solche Theorien und hetzt auch weiter gegen die HDP: Das nationalistische Blatt «Star», das seit Monaten die HDP mit der PKK gleichsetzt, zeigte nach dem Anschlag ein Bild des weinenden Demirtas und textete dazu: «Charakterloser Demirtas. Weinend verlangt er nach Stimmen.»
Bewusste Eskalation?
Die Theorie vieler, meist linksliberaler Türkinnen und Kurden lautet, dass die Regierung ganz bewusst solch ein Klima des Hasses schürt, um sich als starke, ordnende Macht inszenieren zu können und so bei den bevorstehenden Wahlen mehr Stimmen zu holen. Erdogan steuere das Land in eine Spirale der Gewalt. Eine Theorie, die auch in den regierungskritischen Medien diskutiert wird. Um sein Präsidialsystem errichten zu können, habe Erdogan das Land in ein «Blutbad» verwandelt, schrieb die oppositionelle Tageszeitung «Cumhuriyet» und rechnete aus, dass seit den Parlamentswahlen vom 7. Juni rund 700 ZivilistInnen durch Anschläge oder durch Angriffe von türkischen Sicherheitskräften ums Leben gekommen seien.
Bei den letzten Wahlen hatte die HDP überraschend stark abgeschnitten, was der AKP die absolute Mehrheit kostete. Erdogan hatte eigentlich auf eine Zweidrittelmehrheit zum Ausbau seiner Macht gehofft. Weil Koalitionsgespräche zwischen den Parteien scheiterten, wurden für den 1. November erneut Wahlen ausgerufen.
In der HDP gibt es Überlegungen, jegliche Wahlkampfveranstaltungen bis zum Wahltag abzusagen – zu gross sei die Gefahr, dass es weitere Anschläge gibt. Gemäss neusten Umfragen ist absehbar, dass die Wahlergebnisse denen im Juni ähneln werden.
Aus Sicherheitsgründen hat die Regierung beschlossen, die Umstellung von der Sommer- auf die Winterzeit zu verschieben. So können die Wahllokale am 1. November noch vor Sonnenuntergang geschlossen werden. «Wie auch immer die Umstände sind, die Wahl wird stattfinden», sagte Regierungschef Davutoglu. Er sagte aber auch: «Wir haben eine Liste mit Leuten, die möglicherweise Selbstmordattentate planen. Wir behalten sie im Auge, aber wir können sie nicht festnehmen, solange sie nichts tun.» Die Türkei, so Davutoglu, sei nämlich ein Rechtsstaat.