Myanmar: Metamorphose der Macht

Nr. 45 –

Die Opposition ist für die ersten freien Wahlen seit 25 Jahren zugelassen. Falls das Militär dies zulassen würde – könnte sie gar gewinnen.

In Myanmar finden am Sonntag die ersten landesweiten freien Wahlen seit 25 Jahren statt. Von den 92 Parteien, die sich für das Unionsparlament sowie für sieben Parlamente in den Staaten und Regionen des Landes bewerben, haben nur zwei reale Chancen, die Regierung zu stellen: Die oppositionelle Partei Nationale Liga für Demokratie (NLD) von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi könnte die Wahlen gewinnen. Doch ihr mächtigster Gegenspieler, der ehemalige General und seit 2011 amtierende Präsident Thein Sein, hält wacker dagegen. Seine vom Militär dominierte Partei für Unionssolidarität und Entwicklung (USDP) verspricht nun ebenfalls Reformen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.

Suu Kyi kämpft seit Ende der achtziger Jahre für die Demokratisierung Myanmars. Die Militärjunta sperrte sie jahrelang ein oder stellte sie unter Hausarrest. 1990 gewann die NLD die Wahlen haushoch, doch das Militär erkannte das Ergebnis nicht an und reagierte mit Repression. Die Wahlen von Ende 2010 hatte die NLD boykottiert. Sie waren laut Uno manipuliert; das Parlament erklärte daraufhin Thein Sein zum Staatspräsidenten.

Nicht länger wie Himmel und Hölle

Im Wahlkampf gibt sich die NLD versöhnlich: «Keiner muss sich in Furcht wiegen, wenn die NLD die Regierung stellt. Wir beabsichtigen nicht im Geringsten, Rache zu üben», verspricht Suu Kyi an praktisch jeder Veranstaltung. «Die Vergangenheit sollte uns veranlassen, daraus Lehren zu ziehen, und uns nicht dazu verleiten, Wut, Gram und Groll zu schüren.» Mitte Oktober trug Suu Kyi diese Botschaft gar nach Hmawbi im Nordwesten von Myanmars grösster Stadt Yangon.

Ungewöhnlich daran ist, dass Hmawbi ein Garnisonsort ist, wo gleich mehrere Militäreinheiten stationiert sind – eigentlich das Territorium von Thein Seins USDP. Diese empfiehlt sich nun ebenfalls als politisch inklusive Kraft. Thein Sein will angeblich das Gesundheitswesen verbessern, das Steuersystem reformieren, die Gehälter von öffentlichen Bediensteten erhöhen sowie freie Medien und zivilgesellschaftliche Initiativen fördern. Wer heute die Reden der beiden RivalInnen hört, käme kaum auf die Idee, dass deren politische Ansichten und Welten noch vor fünf Jahren wie Hölle und Himmel auseinanderklafften.

Strittigster Punkt ist die neue Verfassung: Diese sieht ein Präsidialsystem vor; die Opposition – neben der NLD gehört etwa auch die National Democratic Force dazu – fordert hingegen eine föderal organisierte Union. Zudem garantiert die neue Verfassung dem Militär 25 Prozent der Sitze auf allen legislativen Ebenen. Und verwehrt der Oppositionellen Suu Kyi das höchste Staatsamt, weil sie mit einem Ausländer verheiratet ist und Kinder mit ausländischem Pass hat.

Ein Coup des Präsidenten

Knapp einen Monat vor dem Wahltermin glückte dem Präsidenten ein Coup mit grossem Symbolgehalt: In der Hauptstadt Naypyidaw empfingen am 15. Oktober RegierungsvertreterInnen EmissärInnen von acht bewaffneten ethnischen Gruppen. Unter den wachsamen Augen ausländischer DiplomatInnen unterzeichneten sie das nationale Waffenstillstandsabkommen NCA (vgl. «Mit Waffen für die Autonomie» im Anschluss an diesen Text). Aung San Suu Kyi war nicht zugegen. Sie hatte eine solche Vereinbarung als «verfrüht» bezeichnet.

«Dieses Abkommen», freute sich der sichtlich gut gelaunte Präsident Thein Sein, «ist ein historisches Geschenk von uns an die künftigen Generationen.» Es weise Myanmar den Weg in eine friedliche Zukunft. Einer solchen Charmeoffensive konnte sich Saw Mutu Say Poe, Vorsitzender der mitunterzeichnenden Karen National Union (KNU), nicht entziehen: Der Vertreter des jahrzehntelang verfolgten Bergvolks bezeichnete das NCA als «eine neu aufgeschlagene Seite in der Geschichte des Landes und das Produkt kühner und energischer Verhandlungen». Worte mit Gewicht: Die KNU ist die älteste bewaffnete Gruppierung des Landes. Sie kämpft seit der Staatsgründung 1948 für Autonomie im Vielvölkerstaat.

Nach seinem Putsch im März 1962 regierte General Ne Win bis zum Sommer 1988 mit rigider, zentralistischer Politik. Er kontrollierte auch die Wirtschaft und den Aussenhandel. Den von ihm kommandierten Streitkräften, den Tatmadaw, gelang es, sich schrittweise den lukrativen Handel mit Teakholz, Edelsteinen und Drogen unter den Nagel zu reissen und die Gewinne einzustreichen. Die Tatmadaw entwickelten sich zudem zu einer auch in psychologischer Kriegsführung geschulten, 490 000 Personen starken Kampftruppe. Zeitweise hatte Myanmar die zehntgrösste Armee der Welt; heute rangiert das Land in den Top 20 und hat – nach Vietnam – das zweitgrösste Heer Südostasiens.

Am 23. Juli 1988 trat Ne Win während einer schweren Wirtschaftskrise zurück. Im Zuge der Krise kam es einen Monat später zu landesweiten Massenprotesten. Sie wurden blutig niedergeschlagen. Kurz darauf bildete sich eine neue Militärjunta, die den Staatsrat zur Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung (später: Staatsrat für Frieden und Entwicklung) gründete. Dieses Instrument war von 1988 bis Anfang 2011 die eigentliche Zitadelle der Macht der Tatmadaw. Ab 2003 verfolgte die Militärjunta unter dem damaligen Ministerpräsidenten Khin Nyunt den «Siebenpunkteplan», durch den das Land bis 2015 demokratisiert werden sollte.

Doch die wesentlichen Etappen dieser Roadmap zur «disziplinierten Demokratie» erfolgten erst unter dem Nachfolger von Khin Nyunt: Than Shwe, Myanmars Ministerpräsident von 2004 bis 2011. Er hatte sich selbst den Titel «Senior General» verpasst, um seinen Herrschaftsanspruch zu untermauern.

Geschmeidiger Abgang

Nach nur drei Jahren im Amt galt Than Shwe bereits als die mit Abstand meistgehasste Person des Landes, denn er hatte den von Mönchen und StudentInnen angeführten Aufstand im Herbst 2007 brutal niederschlagen lassen.

Nur wenige Monate später verscherzte er es sich zudem mit der Staatengemeinschaft: Als der Wirbelsturm Nargis 2008 weite Teile des Landes verwüstete, liess Than Shwe nur begrenzt und streng kontrolliert ausländisches Hilfspersonal und Hilfslieferungen zu. Deshalb erwog man in Washington, London und Paris unter dem Label «humanitäre Schutzmassnahme» eine direkte Intervention. Vor Yangon kreuzten damals bereits Kriegsschiffe.

Doch 2011 verblüffte Than Shwe all seine harschen KritikerInnen: Er überliess die Regierungsgeschäfte seinem Generalskollegen und frisch gekürten Präsidenten Thein Sein. Während andere Despoten unzeremoniell gestürzt oder mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt wurden, nahm der «Senior General» freiwillig seinen Hut und zog sich unauffällig ins Privatleben zurück – ein geschmeidiger Abgang nach Mass.

Reformen im Schnelldurchlauf …

Es war eine Metamorphose der Macht – von der Militärspitze selbst angestossen –, die ihresgleichen sucht. Seitdem hat das Land im Schnelldurchlauf eine Entwicklung durchgemacht, die selbst die intimsten LandeskennerInnen noch wenige Wochen zuvor für unmöglich gehalten hätten: Da wurden auf einmal unabhängige Gewerkschaften und Streiks erlaubt und politische Gefangene scharenweise freigelassen. Darunter auch Aung San Suu Kyi, die sich nach langen Jahren des Hausarrests wieder frei bewegen und politisch betätigen konnte. Ihre Partei, die NLD, wurde legalisiert und die Pressezensur aufgehoben. Anstatt ethnische Minderheiten militärisch zu bekämpfen, wurden mit ihnen Gespräche über Waffenstillstandsvereinbarungen und Friedensperspektiven geführt.

Kein Wunder, dass unter solchen Bedingungen die multinationalen Konzerne ihre Chancen wittern und etwa auch die frühere US-Aussenministerin Hillary Clinton sowie US-Präsident Barack Obama Myanmar offizielle Besuche abstatteten.

… oder Bewegungen in der Starrheit?

Trotz Manipulationen, Einschüchterungen und prekärer Sicherheitslage im Norden und Nordosten des Landes deutet vieles darauf hin, dass die Wahlen im Sinn des Reformprozesses genügend frei und fair ablaufen werden. Wahrscheinlich wird in der nächsten Legislatur eine grössere Zahl von Oppositionellen die Parlamente beleben.

Doch was die im überwiegend buddhistischen Myanmar pogromartig verfolgte muslimische Minderheit der Rohingya anbetrifft, besteht ein beklemmender Konsens zwischen Regierung und Opposition. Die Vereinten Nationen stuft die Rohingya als die «weltweit am stärksten verfolgte Minderheit» ein – und auch Suu Kyi wahrt in diesem Fall Stillschweigen. KritikerInnen aus den eigenen Reihen werfen ihr deshalb vor, sie verhalte sich mehr und mehr wie eine Politikerin und nicht mehr wie eine engagierte Bürger- und Menschenrechtlerin.

Ein Vorwurf, der auch für die NLD-Wahlliste gilt: Bei der KandidatInnenkür, bei der die «Lady» das gewichtigste Schlusswort hatte, wurden mehrere charismatische ProtestführerInnen von 1988 nicht berücksichtigt – etwa Ko Ko Gyi, der über siebzehn Jahre hinter Gittern verbrachte. Auch muslimische KandidatInnen wird man auf den NLD-Listen nicht finden.

Der Publizist und Dozent Rainer Werning hat Myanmar (das bis 1989 Birma hiess) seit Ende der sechziger Jahre mehrfach bereist. Er ist unter anderem Koautor des gerade in zweiter Auflage erschienenen «Handbuchs Myanmar» 
(Horlemann Verlag).

Ethnische Minderheiten : Mit Waffen für die Autonomie

Am 12. Februar 1947, knapp ein Jahr vor der Staatsgründung Birmas (heute: Myanmar), wurde das Panglong-Abkommen unterzeichnet. Es sollte die Autonomieforderungen im Vielvölkerstaat mit seinen 135 unterschiedlichen Ethnien regeln.

Die Euphorie über das Panglong-Abkommen währte nicht lange: Nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft durchlebte das Land eine nur kurze demokratische Phase – der das Militär mit dem Putsch 1962 ein jähes Ende bereitete. Bis 2011 blieb die militärische Dominanz in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur ungebrochen. Immer wieder legitimierten die verschiedenen Militärregimes ihre Macht damit, dass sie den bewaffneten Auseinandersetzungen mit ethnischen und kommunistischen Widerstandsgruppen einen Riegel vorschieben müssten – um die Einheit des Staats zu wahren.

Seit Sommer 2011 hat die Regierung unter Thein Sein den Milizen Friedensangebote gemacht. Doch die Resonanz bleibt bis heute geteilt: Einige Gruppen klinkten sich in einen Waffenstillstandsprozess ein, andere bleiben skeptisch und widersetzen sich einer ihrer Meinung nach politischen Instrumentalisierung.

Im nördlichen Kachin-Staat bekämpfen sich noch immer das myanmarische Militär und die Kachin-Unabhängigkeitsarmee (KIA). Bis zu 100 000 Menschen sind deswegen innerhalb des Landes auf der Flucht.

Im Oktober konnte die Regierung deshalb nur mit acht von fünfzehn bewaffneten Gruppen einen Waffenstillstand vereinbaren. Neben der KIA weigerte sich unter anderem auch die Vereinte Wa-Staat-Armee, das Dokument zu unterschreiben. Sie ist eine der grössten und bestausgerüsteten bewaffneten Gruppen in Myanmar.

Rainer Werning