Wahl in Myanmar: Aung San Suu Kyis Entzauberung

Nr. 45 –

Die Bevölkerung in Myanmar wählt ein neues Parlament. Auch Regierungschefin Aung San Suu Kyi kandidiert, und es ist gut möglich, dass sie wiedergewählt wird. Dabei fällt ihre politische Bilanz der letzten Jahre bescheiden aus.

Für Thet Thet Khine ist die Situation ganz klar: «Es gibt keine Demokratie in der NLD», sagt die 53-Jährige über die Nationale Liga für Demokratie, die Regierungspartei der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Die im Gold- und Juwelenhandel tätige Geschäftsfrau Khine sass selbst bis 2019 für die NLD im Parlament. Wegen ihrer öffentlichen Kritik an der Partei und dem Führungsstil von «The Lady», wie Suu Kyi von ihren AnhängerInnen genannt wird, wurde sie vom Parteiestablishment mehrfach gemassregelt. Daraufhin verliess sie im vergangenen Jahr die NLD und gründete die People’s Pioneer Party (PPP).

Einen Maulkorb, sagt Khine, habe Suu Kyi all ihren Abgeordneten schon gleich nach dem Sieg der NLD 2015 bei den ersten freien Wahlen seit Jahrzehnten verpasst. Zensur sei charakteristisch für den Führungsstil der Politikerin. Suu Kyi kann mittlerweile durch ihre zahlreichen Ämter – sie ist Aussenministerin, Regierungschefin und Parteivorsitzende – vieles und viele kontrollieren. Khine sagt: «Wir sind ihr für ihren langen Kampf gegen die Militärdiktatur dankbar. Aber jetzt ist sie zu einer zivilen Diktatorin geworden.»

Die PPP von Khine gibt sich als bunte Alternative zur NLD. Zwanzig Prozent der KandidatInnen seien jünger als 35 Jahre; 46 Jahre betrage das Durchschnittsalter, sagt Khine stolz. «Wir haben auch einen Mann, der seine Homosexualität nicht versteckt, einen Muslim und einen sehr konservativen buddhistischen Mönch aufgestellt.» Für den 8. November, an dem in Myanmar ein neues Parlament gewählt wird, hofft sie auf genügend Sitze, um politisch mitreden zu können.

Suu Kyi duldet keine Kritik

Die einst als Ikone der Demokratie gefeierte 75-jährige Suu Kyi umgebe sich an der Parteispitze vornehmlich mit alten Männern und Frauen, die wie sie früher politische Gefangene der Militärjunta waren. Jüngere Leute mit Expertise in Wirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung hätten ohne das Gütesiegel «ehemaliger Gewissenshäftling» unter Suu Kyi keine Chance, an die Macht zu kommen, klagt Khine.

Entsprechend bescheiden fällt die Bilanz der fünfjährigen Regierungszeit der von KritikerInnen als «beratungsresistent» bezeichneten Suu Kyi aus. So geht es etwa nach einem kurzen Tauwetter nach dem Ende der Militärdiktatur 2011 nun wieder mit der Meinungs- und Pressefreiheit bergab. Im aktuellen Bericht von Reporter ohne Grenzen über die weltweite Pressefreiheit rangiert Myanmar auf Platz 139 der 180 gelisteten Länder.

Überschaubar ist auch die wirtschaftliche Bilanz der NLD-Regierung. «Würden nicht Millionen Myanmarer in Thailand, Malaysia oder Singapur arbeiten, hätten wir eine riesige Arbeitslosigkeit», ist sich Zahnarzt Khin Zaw Win sicher. Der ehemalige politische Gefangene leitet heute in Yangon (ehemals Rangun) das unabhängige Tampadipa-Institut, eine Organisation für Demokratie und Menschenrechte. Auch Suu Kyis Versprechen, dem Land Frieden zu bringen, sei ein leeres gewesen, sagt Win. Der seit Jahrzehnten währende Bürgerkrieg zwischen der Armee und den Milizen ethnischer Minderheiten sei unter ihrer Ägide eskaliert. Für am meisten Aufsehen sorgte 2017 die äusserst gewaltsame Vertreibung Hunderttausender Rohingya durch myanmarische Soldaten.

Die Union von Myanmar, so der offizielle Name des ehemaligen Birma, ist ein komplexes Gebilde. Die 54 Millionen EinwohnerInnen gehören 135 ethnischen Gruppen an. Die grössten mit eigenen Milizen sind die Kachin und die Shan an den Grenzen zu Thailand und China sowie die Chin und die ArakanesInnen im Westen an der Grenze zu Bangladesch und Indien. Die Bama als grösste ethnische Gruppe leben in Zentralmyanmar, das vom Indischen Ozean im Süden bis zum Himalaja im Norden reicht. Verwaltungsmässig ist Zentralmyanmar in sieben Regionen unterteilt, während die ethnischen Minderheiten mit bescheidener Autonomie in sieben Unionsstaaten leben.

Wiederwahl gesichert

Die Bama, zu denen Suu Kyi wie auch Armeechef Min Aung Hlaing gehören, unterdrücken die ethnischen Minderheiten seit über siebzig Jahren, und ebenso lange kämpfen die Kachin, die Shan, die Karen, die ArakanesInnen, die Chin und andere Minderheiten mit ihren Milizen für politische, wirtschaftliche und soziale Gleichstellung mit den Bama in einem föderalen Staat.

Nach ihrem Wahlsieg vor fünf Jahren, den sie zu einem Teil ebendiesen ethnischen Minderheiten zu verdanken hatte, ernannte Suu Kyi jedoch NLD-Getreue zu ChefministerInnen der einzelnen Unionsstaaten, statt mit der Berufung von Angehörigen der jeweiligen ethnischen Gruppe ein Zeichen der Versöhnung zu setzen. «Sie hat damit die Minderheiten vor den Kopf gestossen», sagt Win und fügt hinzu: «Ihr Versprechen, den Föderalismus einzuführen, ist nichts als ein Lippenbekenntnis.»

Trotzdem scheint die Wiederwahl von Suu Kyi und der NLD gesichert, sagt Win. «Die Jugend, die Minderheiten und die urbanen Intellektuellen haben kein Vertrauen mehr in sie», sagt Win. Aber unter den Menschen in den ländlichen Gebieten im Kernland der Bama habe die Popularität und Verehrung der Tochter des legendären Unabhängigkeitshelden General Aung San nach ihrem Auftritt vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zugenommen. Im Januar 2020 verteidigte sie dort Myanmar gegen den Vorwurf des Völkermords an den Rohingya.

Mit Skepsis schauen internationale Organisationen auf die nun stattfindende Wahl. Human Rights Watch etwa mahnt in einem Bericht: «Die Wahl ist so lange nicht frei und fair, wie ein Viertel der Sitze dem Militär vorbehalten sind, es keinen gleichberechtigten Zugang zu den staatlichen Medien gibt, Regierungskritikern Zensur oder Festnahmen drohen und den Rohingya die Teilnahme an der Wahl verweigert wird.»

In den fünf Jahren ihrer Regierung hat Suu Kyi auch die Erfüllung ihres Versprechens einer Verfassungsreform zur Entmachtung des Militärs nur halbherzig betrieben. Sowohl «The Lady» als auch die Generäle seien NationalistInnen, die an der Vorherrschaft der Bama nichts ändern wollten, sagt Win. Neben einem Viertel der Parlamentssitze garantiert die Verfassung der Armee die alleinige Kontrolle über die drei sicherheitsrelevanten Ministerien Verteidigung, Grenzschutz und Inneres. Zudem stellen die Generäle über ihr Firmenkonglomerat Myanmar Economic Holdings Limited (MEHL) einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar. Nach einer aktuellen Recherche von Amnesty International sind die 381 636 Einzelaktionäre von MEHL aktive oder ehemalige Militärangehörige. Bei den 1803 institutionellen Anteilseignern handle es sich um «regionale Kommandos, Divisionen, Bataillone, Kompanien und Kriegsveteranenverbände», heisst es in einem Amnesty-Bericht.

Für die Geschäftsfrau Khine ist die Wahl auch ein Probelauf ihrer PPP für die Parlamentswahlen 2025. Denn dann wird Suu Kyi achtzig Jahre alt sein, und es ist durchaus möglich, dass sie dann nicht mehr antritt. Khine rechnet in diesem Fall mit einem «Kollaps der NLD ohne Suu Kyi». Dann würden die Karten neu gemischt.